VON CLEMENS POKORNY
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22.07.2016 08:01
Studienabbruch: Gründe, Alternativen und gesellschaftliche Bewertung
Die steigenden Zahlen der Studierenden sorgen auch für immer mehr Studienabbrecher. Wer seinen Schritt im Vorstellungsgespräch gut verkauft, hat gute Chancen auf einen der derzeit immer öfter unbesetzt bleibenden Ausbildungsplätze. Die Gründe dafür, ein Studium abzubrechen, sind vielfältig – und das Problem hausgemacht. Denn Deutschland braucht nicht mehr Studenten, sondern Absolventen, allerdings nur in bestimmten Fächern.
Immer mehr junge Menschen in Deutschland machen das Abitur, immer mehr Studienanfänger gibt es zwischen Kiel und Konstanz. Im Vergleich zu den Werten anderer OECD-Staaten sind etwa 50% Abiturienten und fast 60% Studienanfänger eines Jahrgangs (einschl. derjenigen ohne Abitur) allerdings eher wenig. Und über 30% derer, die mit einem Studium begonnen haben, brechen es wieder ab und verlassen die Hochschule ohne Abschluss. Woran liegen die hohen Abbruchzahlen? Welche beruflichen Perspektiven haben Studienabbrecher? Und ist diese Vergeudung von Geld, Talent und Zeit angesichts des von vielen Seiten beklagten Fachkräftemangels nicht eine Katastrophe?
Als Gründe für ihren Schritt nennen viele Studienabbrecher zu hohe Anforderungen im Studium, Geldmangel und fehlende Motivation. Nur den am zweithäufigsten genannten Grund könnte die Bundesregierung angehen: Noch immer beziehen im internationalen Vergleich viel zu wenige Studenten in Deutschland ein Stipendium. Und wer eines bekommt, erhält oft auch dann nur das elternabhängige Büchergeld, wenn seine oder ihre Eltern de facto zu wenig Einkommen bleibt, um ihr Kind adäquat zu unterstützen. Je mehr aber neben dem Studium fachfremd gejobbt wird, desto mehr weicht am Ende die Abschlussnote vom eigentlich für die Betreffenden möglichen Optimum ab – wenn das Studium nicht gleich ganz abgebrochen werden muss. Fehlender Motivation ließe sich hinwiederum etwa mit einer besseren Vorbereitung angehender Abiturienten auf ein Studium begegnen. Wer beispielsweise während des vorletzten Schuljahres dazu verpflichtet wäre, zwei Wochen lang in Veranstaltungen verschiedener potentieller Studienfächer zu hospitieren und die Studienberatungen dieser Disziplinen zu befragen, könnte sich ein realistisches Bild über das Leben und Arbeiten an der (Fach-)Hochschule verschaffen und etwaigen späteren (Ent-)Täuschungen vorbeugen. Auf unter 10% ließe sich die Abbrecherquote allerdings sicherlich nicht senken. Denn erstens ist es völlig verständlich, wenn Zukunftspläne und Neigungen sich bei einem jungen Menschen noch ändern. Und zweitens stellt sich die (unten näher beantwortete) Frage, ob wirklich 60% oder mehr eines Jahrgangs die Fähigkeit und Bereitschaft besitzen können, sich über mehrere Jahre hinweg intensiv mit Theorien zu beschäftigen.
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Den gestiegenen Abiturienten- und Studienanfängerzahlen stehen immer weniger Bewerberinnen und Bewerber auf Ausbildungsplätze gegenüber. Kein Wunder: Dass Berufstätige mit Ausbildung deutlich weniger verdienen als Akademiker, nämlich
durchschnittlich 60%, ist allgemein bekannt – vor allem daher rührt ja die derzeit so hohe Bereitschaft, ein Studium aufzunehmen und mehrere Jahre lang auf ein eigenes Erwerbseinkommen zu verzichten. Diese Tatsache kommt Studienabbrechern allerdings zugute, denn ihre Chancen auf einen Ausbildungsplatz waren wohl noch nie so gut wie heute.
Fachleute raten, das Studium im Lebenslauf nicht zu verschweigen und im Bewerbungsgespräch offen anzusprechen. Dabei sollte die Gelegenheit genutzt werden, sowohl das Studium als auch den Abbruch positiv zu verkaufen: Von einem Studium profitiert man immer, und ein Abbruch zeigt, dass man sich Desinteresse und/oder sein Scheitern eingestanden hat, eine mutige Lebensentscheidung getroffen hat und nun für neue Aufgaben bereit ist. Im Internet finden sich viele Hilfestellungen für Studienabbrecher, zum Beispiel unter
studienabbrecher.com.
Ist schließlich ein Studienabbruch eine Katastrophe? Für die abbrechende Person nur dann, wenn sie unfreiwillig die Hochschule verlässt; und auch in diesem Fall gibt es berufliche Alternativen (s.o.). Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!
Gesamtgesellschaftlich gesehen bedeutet jeder Studienabbruch, dass zuvor unnötig Geld in den betreffenden Studienplatz investiert wurde. Unter anderem wird die Auszahlung von Fördermitteln für jeden besetzten Studienplatz
nach den Vorgaben des Dritten Hochschulpaktes künftig zu einem geringen Teil daran geknüpft, dass mit diesem Platz auch tatsächlich ein Abschluss gemacht wird. So sollen die Hochschulen gezwungen werden, potentielle Studienabbrecher im Vorfeld gezielt zu beraten und zu unterstützen.
Die Maßnahme könnte sich allerdings zum Bumerang entwickeln. Schon die
Einführung des achtjährigen Gymnasiums in fast ganz Deutschland hat nicht zuletzt zu einem
massiven Niveauverlust und zu einer Noteninflation (etwa doppelt so viele viele 1,0-Abiturientinnen und -Abiturienten im Jahr 2015 im Vergleich zu 2006) geführt. Wenn Universitäten finanzielle Anreize dazu haben, möglichst viele Studierende zu einem Abschluss zu führen, dürfte das zu Lasten des Niveaus des Studiums gehen, das durch die Einführung des Bachelor-Master-Systems ohnehin gesenkt wurde. Letztlich lässt sich Deutschland ohne Not angelsächsische Verhältnisse aufzwingen: Immer mehr Akademikerinnen und Akademiker werden produziert, allerdings sind deren Abschlüsse immer weniger wert. Insofern beruhen die Forderungen nach einer Akademisierung immer weiterer Teile der Wirtschaft auf einer Milchmädchenrechnung. Fachkräftemangel dagegen wird weiterhin bestehen, solange wir nicht bereit sind, das Niveau des Studiums z.B. von angehenden Bau- und Elektroingenieuren zu senken. Doch wer würde gerne in einem von Turbo-„Akademikern“ errichteten, möglicherweise einsturzgefährdeten Haus wohnen? Gerade in den meist sehr mathematischen Mangelfächern, die mit
Abbruchquoten um die 50% am meisten zur Zahl der Studienabbrecher beitragen, lässt sich das Leistungsniveau nicht senken. Dort bedarf es allerdings einer noch höheren Zahl an Vorbereitungskursen und Tutorien, um die Absolventenzahl zu steigern. Kurzum: Deutschland braucht nicht mehr Studenten, sondern allenfalls mehr Absolventen – aber fast nur in den Mangelfächern des MINT-Bereichs. Die Zahl der Studienabbrecher ließe sich allerdings auch senken, indem Fächer mit unnötig hohen Studentenzahlen (Lehramt, Jura, Geistes- und Sozialwissenschaften) weniger Studienplätze anböten und den Zugang zum Studium stark reglementierten. Zum Beispiel über die Abiturnote, die
nach wie vor große Vorhersagekraft dahingehend besitzt, ob jemand sein Studium abbrechen wird oder nicht. Doch zur Senkung der Studienplatzzahlen fehlt die gesellschaftliche Akzeptanz und somit auch der politische Wille.