VON LISI WASMER | 20.02.2014 16:19

Lärm, Stille und alles dazwischen

Ich gebe zu, dass es meine Eltern sicher nicht immer leicht mit uns hatten. Aber wer sich innerhalb von gut fünf Jahren gleich drei „Materialprüfer“ (Zitat Papa) ins Haus holt darf sich auch nicht über die daraus resultierende Lärmbelästigung wundern. Im wenig erfolgversprechenden Versuch die Konsequenzen immerhin geringfügig einzudämmen gab es strikte Regeln: Am Wochenende Ruhe bis neun Uhr, im Auto nach Italien keine Pumuckl-Kassetten – zumindest bis mein Papa spätestens am Brenner einsehen musste, dass gelangweilte Kinder mindestens zehn mal mehr Lärm produzieren als ein kleiner Kobold mit quäkig-schrillem Stimmchen. So schnell kann sich das Lärmempfinden anpassen.


Zeitsprung: Montag, sechs Uhr siebzehn. Slayer. Mein Freund wacht gerne zu Thrash Metal auf. Und das für gewöhnlich vier bis fünf Mal jeden Morgen, weil er neben treibenden Gitarrenriffs und Double Bassdrums obendrein und ganz besonders die Snooze-Funktion seines Handyweckers verehrt. Ein guter Start in den Tag, findet er. Unerträglicher Lärm, finde ich. Der Fairness halber muss ich gestehen, dass ich mich nach dem Frühstück manchmal mit Minimal Electro revanchiere. Dann sieht mein Freund aus, als würden ihm bald die Ohren bluten und wir sprechen bis mittags nicht miteinander. Ansonsten haben wir uns aber sehr gern.

Was das bedeuten soll: So verschieden die Musikgeschmäcker einzelner, so verschieden ist auch das Lärmempfinden. Was für den einen der reinste Wohlklang sein mag, bedeutet für den anderen die ultimative Zerreißprobe für Trommelfell und Nerven. Lärm ist also subjektiv. Lärm kann krank machen. Und was erst auffällt, wenn man versucht ihm zu entkommen: Lärm ist überall.

Was ist Lärm?

Lärmquelle Telefon

Laut Duden steht Lärm für „als störend und unangenehm empfundene laute, durchdringende Geräusche“. Dabei zeigt uns die Alltagserfahrung, dass wir uns bei vielen dieser Geräusche durchaus einig darüber sind, dass sie eindeutig der Kategorie Lärm zuzuschreiben sind. Ein Beispiel: Mir ist noch niemand begegnet, der in seiner Freizeit genüsslich dem Knattern eines Presslufthammers lauscht. Andererseits gibt es auch Laute, die nur von einzelnen Menschen, beziehungsweise Menschengruppen als störend empfunden werden, wie dies etwa bei unterschiedlichen Musikrichtungen der Fall ist (oder bei Pumuckl-Kassetten).

Worin liegt hier der Unterschied?

Vermutlich in der Definition. Denn wenn Geräusche sich tatsächlich durch nichts als durch das Hervorrufen eines unangenehmen Gefühls als Lärm auszeichnen, dann zählen auch Slayer, die Blank Dogs oder meinetwegen Helene Fischer zu dieser Kategorie – und zwar immer und für jeden. Dem ist aber nicht so. Ich finde die Blank Dogs grandios. Mein Freund hört Slayer nicht aus irgendeiner masochistischen Laune heraus. Und Helene Fischer hat mehr Fans, als ein gesunder Verstandsmensch nachvollziehen kann. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass die Definition von Lärm zu eingeschränkt ist, dass sie erweitert werden muss. Aber um was? Ein vielversprechender Ansatzpunkt wäre die Intentionalität.

Wenn uns ein Laubbläser morgens aus dem Schlaf reißt oder wenn ein Düsenjet die nachmittägliche Gartenidylle stört, handelt es sich bei den betreffenden Geräuschen um inhaltslose, gewissermaßen „unnütze“ Töne. Sie vermitteln keinen propositionalen Gehalt. Die einzige Information, die sie enthalten, ist eine existenzielle: Da gibt es einen Laubbläser. Da fliegt ein Düsenjet. Musik beinhaltet aber mehr als bloß einen Hinweis darauf, dass irgendwo ein Schlagersternchen jodelt oder ein Metalopa ins Mikro kreischt. Musik ist Kommunikation und somit allein schon naturgemäß weitaus vielschichtiger als schlichter Lärm. Man denke allein an die vier Ebenen der Kommunikation nach Schulz-von-Thun. „Echter“ Lärm hingegen kennt höchstens zwei Ebenen – die physikalische, also die messbare Ausprägung von Lärm; und die emotionale, im Sinne der (unangenehmen) Gefühle, die er bei uns verursacht. Somit ist auch leicht verständlich, weshalb wir uns über diesen „echten“ Lärm in der Regel alle einig sind, über Musiklärm aber nicht: Es ist viel wahrscheinlicher, auf zwei Ebenen denselben Geschmack zu haben als auf vieren.

Die Suche nach Stille

Die Konsequenz daraus sollte vermutlich die sein, zumindest den „echten“ Lärm so weit wie möglich zu reduzieren, da er schließlich bei allen Menschen Unwohlsein, wenn nicht sogar Krankheit bewirkt. Gehörschutzkapseln, Flüsterasphalt oder Schallschutzfenster sind Beispiele für Maßnahmen in diese Richtung. Schon der Ansatz zeigt aber, wie sehr uns der Lärm im Griff hat: Kein Politiker, kein Wissenschaftler, überhaupt niemand beschäftigt sich damit, wie Lärm zu beseitigen wäre. Stattdessen geht es immer nur um Reduktion.

Aber auch wenn „leiser Lärm“ nicht mehr gesundheitsschädigend ist – es scheint doch immerhin unstrittig einleuchtend zu sein, dass absolute Ruhe (wenn auch nur in kleinen Dosen) zumindest für das mentale Wohlbefinden unbedingt notwendig ist. Und trotzdem ist Stille ein Zustand, den herzustellen heute kaum noch jemand in der Lage ist. Zur Veranschaulichung könnte man beispielsweise sein Handy ausschalten, die Fenster schließen und sich drei Minuten lang reglos aufs Sofa setzen – solange einen Umweltgeräusche wie die nahe gelegene Hauptstraße, den Rasenmäher im Nachbarsgarten oder die Spülmaschine in der Küche nicht allzu sehr stören.

Auf die Suche nach Stille hat sich auch der Filmemacher Philip Gröning gemacht. Er bat 1984 den Orden der Kartäuser um eine Drehgenehmigung für einen Dokumentarfilm über die mit Schweigepflicht belegten Mönche. Im Jahr 2000 erhielt er die Zusage, weitere fünf Jahre später wurde der Film veröffentlicht. „Die große Stille“ konnte man 2005 also wenigstens auf der Leinwand erleben – unterbrochen vielleicht nur vom Rascheln der Popcorntüte auf dem Sitz nebenan.