VON JULIA ZETZ | 24.02.2014 11:47

Der Phantasie entsprungen

Als Kind saß ich stundenlang da und hörte einfach zu. Nicht etwa den Streitigkeiten meiner Eltern, sondern einfach meiner Umgebung. Ich saß vor dem Fenster und saugte die Geräusche der Straße auf, nahm wahr, was dort geschah. Aber eine Sache faszinierte mich am meisten: das Meeresrauschen einer Muschel. Kaum verwunderlich, dass ich viele Jahre dachte, was man dort hören konnte, sei tatsächlich das Rauschen des Meeres. Ich machte mir tagelang Gedanken darüber, wie das Meer, das ja so weit weg war, in diese Muschel käme. Ich stellte mir vor, wie Wale und Delphine darin leben würden, wie ich in der Muschel schwimmen oder nach einem Seestern tauchen würde. Leider wurde ich älter und erfuhr so irgendwann die Wahrheit über das vermeintliche Meeresrauschen. Es war nämlich nicht das Meer, was ich hören konnte, sondern lediglich meine Umgebungsgeräusche.


Vielleicht war genau das der Punkt, an dem mir ein bisschen Kindlichkeit genommen wurde. Im Laufe der Jahre hat sich mein phantasievolles Hören verändert. Die Geräusche der vorbei fahrenden Autos waren nicht mehr Menschen, die auf dem Weg waren, Abenteuer zu erleben. Nein, sie wurden zu lästigen Dingen, die mir die Ruhe stehlen wollten. Das Pfeifen des Wasserkochers war nicht mehr eine Dampflokomotive, die in fremde Länder fuhr, es war das Zeichen, mich von meinem Sofa erheben zu müssen.

Von der Phantasie in die Realität

Zeit, ein moderner Sklaventreiber

Als Kinder erleben wir die Welt anders, vor allem hören wir die Welt anders. Geräusche haben eine Geschichte, sie erzählen Abenteuer und entführen uns in fremde Welten. Wir tauchen ein in eine Umgebung voller neuer und interessanter Dinge, wir wollen sie erforschen und hautnah erleben. Sind wir aber erwachsen geworden, empfinden wir die meisten Geräusche als lästig. Sie stören uns bei der Arbeit oder wecken uns aus dem wohlverdienten Schlaf. Doch warum ist das so? Warum sagt uns unser erwachsenes Gehör: „Schalte alles um dich herum aus, sonst bist du abgelenkt!“?

Nun, ganz genau kann ich dieser Frage nicht auf den Grund gehen, aber vielleicht liegt es an der Tatsache, dass wir als Erwachsene unter einem enormen Druck stehen? Denken wir uns für einen Moment in unsere Kindheit zurück:

Es ist Samstagmorgen. Wir wachen schon sehr früh auf. Es ist sechs Uhr, die Welt ist still. Kein Auto fährt vorbei, keine Nachbarn, die durch den Hausgang zur Arbeit hetzen. Die Eltern schlafen noch. Wir haben gespielt, gelesen oder versucht, unsere Eltern zu wecken. Es gab Frühstück und der Tag ist einfach so passiert, ohne Plan und ohne Ziel. Und heute? Ich für meinen Teil quäle mich samstags um acht Uhr aus dem Bett, völlig fertig von der anstrengenden Woche. Schnell ein Kaffee und dann erst mal einkaufen gehen. Danach Wohnung putzen, Wäsche waschen und noch was für die Uni tun. Abends dann Freunde treffen.

Wir sehen also, der Stressfaktor hat sich während dem erwachsen werden stark verändert. Wir stehen unter Druck, müssen hervorragende Leistungen in der Uni oder im Job vollbringen, eine saubere Wohnung haben und einen vollen Kühlschrank. Wir nehmen uns selbst die Zeit, einfach mal nichts zu tun.

Manchmal wünsche ich mich in meine unbeschwerte Kindheit zurück. In eine Zeit, in der Straßengeräusche noch Abendteuer verhießen, Wasserkocher noch in fremde Länder aufgebrochen sind und das Rauschen in einer Muschel noch Unbeschwertheit bedeutete.