Von André Jörg | 01.01.2018 16:58

Vipassana – Meditieren ohne Spa und Duftstäbchen

Die Meditationstechnik Vipassana wurde durch den indischen Meditationslehrer Satya Narayan Goenka auch im Westen etabliert. Sie ist eine der ältesten, überlieferten Meditationstechniken, die aus dem Buddhismus erwachsen ist. Diese Atemmeditation, frei von Mantras oder Imaginationen, richtet ihren Fokus auf eine Balance aus Achtsamkeit und Gleichmut. Rund über den Globus verteilt, gibt es Einrichtungen, in denen man sie während drei bis 60 Tagen unter Aufsicht von Lehrern und angeleitet von einem relativ strengen, aber sinnvollen, Regelwerk praktizieren kann.


Punkt 4:00 Uhr morgens ertönt ein Gong und, gesetzt den Fall, man konnte überhaupt schlafen, wacht man wie von diesem Ton gesteuert aus einer Suppe surrealer Träume auf und schlurft robotergleich in Richtung Bad. Nachdem man im Eilverfahren seine Morgentoilette erledigt hat, kann man auf seinem Zimmer oder in einer Meditationshalle meditieren. Hat man Pech, gesellt man sich zu jemanden, der noch nicht ganz aus dem Land der Träume erwacht ist und gelegentlich schnarchend zu einem rüber umkippt. Das ist aber eher die Ausnahme. Um 6:30 Uhr verkündet der nächste Gong, dass das Frühstück bereit ist. Ein Teil der Meditierenden geht bedacht und achtsam zum Buffet, wohingegen andere, meist neue Schüler/-innen, etwas unbeherrschter sind und beinahe drängelnd alles, was sie bekommen können, auf ihren Teller schaufeln. Da man aber, abgesehen von ein wenig Obst, seit 16:00 Uhr am Vortag nichts essen konnte, sei es den Neulingen verziehen.

Nach einer Ruhephase gongt es um 8:00 Uhr schon wieder, und man versammelt sich in der Meditationshalle für eine Gruppenmeditationssitzung. Dort wird man gebrieft, in welcher Weise weiter meditiert werden soll. So baut Vipassana auf unterschiedlichen Stufen, man könnte fast von Schwierigkeitsgraden sprechen, auf. Anfangs beobachtet man nur seinen Atem, um nach und nach den ganzen Körper zu betrachten und zu fühlen. Es ist verblüffend, wie man nach wenigen Tagen anfängt, Empfindungen an Körperstellen zu registrieren, die man zuvor als „totes, gefühlloses Territorium“ wahrnahm. Die Theorie von Vipassana besagt, dass man durch das Abtasten des Körpers Schmerzstellen und Stellen des Wohlempfindens ausfindig macht. In diesen Bereichen sind die sogenannten Saṅkhāra beheimatet. Emotionen der Ablehnung, wie des Verlangens. Beide gilt es auf nicht wertende Weise anzuerkennen. Durch diesen Prozess soll der Mensch von Leiden, wie Komplexen, Ängsten etc. befreit werden und ein glücklicheres Leben führen können und, wenn man daran glaubt, ins Nirvana einkehren können. Zu diesem Idealzustand führt aber ein langer Weg.

Einmal mehr hört man den Gong, der um Punkt 11:00 Uhr für das Mittagessen zu Tisch bittet. Das letzte Essen des Tages für Menschen, die schon mal an einem solchen Kurs teilgenommen haben. Für die anderen gibt es am Nachmittag noch Obst. Das klingt ein wenig sadistisch, ist aber der Meditation zuträglich, da es sich mit vollem Magen nicht gut meditieren lässt. Nach einer zeitlich überschaubaren Pause, in der man auch mit seinem Lehrer über seine Fortschritte, Missverständnisse etc. sprechen kann, geht es dann schon wieder weiter mit dem Meditieren bis 19:00 Uhr, wo man allabendlich via Beamerpräsentation einem Vortrag von Goenka, dem charismatischen Hauptvermittler von Vipassana lauscht. Anekdotisch spricht er über die Technik, deren Nutzen, wobei er hervorhebt, dass Vipassana von keiner Religion oder Konfessionszugehörigkeit abhängig ist, und somit für alle Menschen praktizierbar ist ohne „ihren“ Heiligen xy zu gängeln. Auch hebt er hervor, dass man sich von der gesamten Philosophie hinter Vipassana losmachen kann, um einfach nur zu meditieren. Ein Ansatz, der für nicht spirituelle Menschen denkbar ist und einen leichteren Zugang ermöglicht. Manch einem Skeptiker erscheint Goenka vielleicht wie ein Guru, was sich aber bei genauerem Hinsehen und vor allem Hinhören schnell relativiert. Nicht zuletzt, da er auch schon in der UNO einen Vortrag gehalten hat. Ein Auditorium, das Gurus oder ähnlichen Blendern eher vorenthalten bleibt, wenn man mal von einzelnen Politikern und Politikerinnen absieht.

Auf viele wirken zumindest einzelne Punkte des Regelwerks für einen solchen Meditationsaufenthalt – mal abgesehen davon, dass man nicht töten, lügen oder Toxisches zu sich nehmen darf - abschreckend, altbacken oder zumindest befremdlich. Frauen und Männer müssen getrennt voneinander sein, man soll Blickkontakte untereinander vermeiden, und es ist obligatorisch zu schweigen, wovon Gespräche mit den Lehrern und Lehrerinnen ausgenommen sind. Es gilt sich vegetarisch zu ernähren, was für manche im Verbot zu töten schon enthalten ist. Im Weiteren heißt es, sich während dieser Zeit in sexueller Enthaltsamkeit zu üben, weder zu lesen noch zu schreiben oder electronic devices zu benutzen, außerdem darf das Gelände während der Kursdauer nicht verlassen werden. Die Sinnhaftigkeit mancher dieser Regeln erschließt sich den meisten erst, wenn sie an einem Kurs teilgenommen haben. Das übergeordnete Ziel ist es, jegliche noch so kleine Ablenkung zu vermeiden, sodass man sich allein auf das Meditieren konzentrieren kann.

Ein Tag ohne zu reden

Sobald ein Kurs beendet ist und so auch das große Schweigen gebrochen werden darf, finden sich viele in einer Situation, die man als Kontrast zu den vergangenen Tagen erlebt, was für manche auch eine Überforderung sein kann: Menschen, die während vieler Tage nebeneinander her gelebt haben, sogar ein Zimmer geteilt haben, können sich nun austauschen. Diese neue Situation ermöglicht den Realitätscheck hinsichtlich des während der vergangenen Tage vom Gegenüber entstandenen Bildes, das notwendig eine Projektion war. Das kann zu vielen Erkenntnissen führen und auch Überraschungen können sich einschleichen.

Auch wenn man nicht erwarten kann, nach einem Kurs unmittelbar die absolute Erleuchtung zu finden, so kann man doch viel in den Alltag mitnehmen. Etwas, das wohl auch die höchste Kunst ist: Die erarbeitete Achtsamkeit in das normale Leben zu integrieren. Viele Menschen sprechen davon, dass sie weniger aus Affekten heraus handeln, das eine oder andere Suchtverhalten besser in den Griff bekommen haben, ihr Ego leichter zufrieden stellen können oder ganz einfach zufriedener sind. Allerdings empfiehlt es sich, auch weiterhin regelmäßig zu meditieren, da man nur allzu schnell in alte Muster verfällt, von denen man meinte, sie hinter sich gelassen zu haben. An ein wenig Fleiß und Konsequenz im Verhalten kommt man da nicht vorbei.

Wer sich für einen solchen Kurs interessiert, kann sich auf dieser Seite anmelden: https://www.dhamma.org/en/locations/directory Es handelt sich um Vereine oder vereinsähnliche Strukturen rund um den Globus. Alle Helfer/-innen und Lehrer/-innen arbeiten ehrenamtlich. Die Kurse sind kostenlos, wobei eine Spende angemessen ist, damit sich das Ganze auch weiterhin tragen kann.

Bild von Vitamin auf Pixabay.
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