VON SUSANNE BREM | 14.10.2016 13:48

Vom Wert des Menschen: Was Konkurrenz für ein Miteinander bedeutet

Rivalität unter Kollegen, Wettstreit beim sportlichen Hobby, Kampf um gute Noten und Anerkennung in der Schule – Ellbogenmentalität und Durchsetzungsvermögen sind Merkmale, mit denen man sich heute gerne brüstet. Die FAZ konstatiert dabei sogar jeden als „entweder Gewinner oder Verlierer“. Diese drastische Einteilung hat gesellschaftliche und soziale Folgen: Egoismus, Unfairness, Unrecht. Woraus entwickelt sich das? Hat die dauerhafte Konkurrenz auch positive Effekte? Und was bedeutet sie langfristig für eine Gemeinschaft und ihre Individuen?


Konkurrenz regiert im Alltag. Das beginnt bereits morgens beim Auswählen der Kleidung, später im Kontakt mit Kollegen und anderen Mitmenschen und generell bei der Ernährung, im Sport, im „Ausleben“ der individuellen Wesensart: Wer nicht mithalten kann, sich nicht bis zu einem gewissen Grad ins gesellschaftliche System einfügen kann, fliegt raus – ein Verlierer. Der Soziologe Alfred Vierkandt beschreibt ihn als denjenigen, der zwar dieselben Ziele und Wünsche wie der Gewinner hat; er erreicht sie aber nicht und wird dennoch mit ihnen verknüpft und identifiziert, allerdings negativ konnotiert: als das, was er gerne wäre, aber nicht schafft zu sein. Der Gewinner steht zwar mit sozialer, beruflicher oder ähnlicher Anerkennung und mit äußerem Erfolg da, sieht sich laut Vierkandt jedoch einem anderen Problem gegenüber: Nachdem er sich vorher in Konkurrenz möglicherweise besser verkauft hat, als er ist, muss er diesen Ansprüchen nun entsprechen. Dem hält nicht jeder stand. Wer ist zu schwach, wer ist stark?

Was Konkurrenz ist und macht

Vierkandt formuliert als Prinzip der Konkurrenzgesellschaft, dass jeder Einzelne um Aufmerksamkeit derer ringt, die in seinen Augen das Potenzial haben, sein Leben mit ihrer Anerkennung zu verbessern (durch eine Beförderung etwa oder in der Liebe). Eine Ressource steht also nicht in dem Ausmaß zur Verfügung, wie an ihr Interesse besteht. Das Problem: Konkurrenz entzweit. Es markiert alle als mögliche Gegenspieler und gibt jedermann einen bestimmten Wert, der ins Verhältnis zum eigenen gestellt wird. Das eröffnet Hierarchien, bringt Missgunst, Neid, Angst, Unsicherheit und impliziert auch die Möglichkeit, nicht gut oder wertvoll genug zu sein.

Dieses Thema wird auch immer wieder in Diskussionen um pränatale Diagnostik (PND) aufgegriffen. Seit die Medizin schon vor der Geburt eines Kindes Krankheiten und Gendefekte feststellen kann, stehen werdende Eltern vor der Wahl, ob sie ein möglicherweise behindertes Kind großziehen oder abtreiben wollen. Statistiken legen zum Beispiel offen, dass neun von zehn Schwangerschaften abgebrochen werden, nachdem beim Fötus Trisomie 21 diagnostiziert wurde. Offenbar besteht schon für Ungeborene das „Risiko“, nicht gut genug zu sein, langfristig zu viel Pflege und Betreuung zu benötigen; Normabweichungen verursachen bei vielen werdenden Eltern anscheinend noch immer Angst und Ablehnung. Kritische Stimmen sagen, durch PND können eigentliche Wunschkinder doch noch aussortiert werden, die scheinbar zu krank oder zu schlecht sind – für wen auch immer. Extreme Meinungen sehen die PND sogar als „missbräuchliches“ Werkzeug zur Optimierung der Bevölkerung; voraussichtlich schwache Mitglieder werden vorsorglich eliminiert, Eltern entziehen sich einer Verantwortung, die ihnen zu groß ist oder ihnen, hart formuliert, Nachteile und Einschränkungen bringen könnte. Die Dichotomie zwischen gesund und krank, besser und schlechter werde so aufrecht erhalten und zementiert. Der Konkurrenzgedanke ist also selbst bei der Frage präsent, ob Leben zugestanden wird: Wird mein Kind bestehen können? Werde ich mit diesem Kind mein Leben leben können? Und das meint vor allem: im Verhältnis mit anderen; in Aufeinandertreffen, in Konflikten, im Beruf, im Sozialleben.

Egoismus oder Gemeinschaftssinn

Mögliche Wege abseits von Konkurrenz

Sich den zahlreichen Konkurrenzen im täglichen Leben zu entziehen, ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Möchte man sich aus einem Wettbewerb herausnehmen, ist da immer noch die Gegenseite, die einen dennoch als rivalisierend wahrnimmt und mit seinem Verhalten in den Wettbewerb einbezieht – die Frage ist also eher, ob man aktiv oder passiv konkurriert. Aus diesem Grund ist es notwendig, Dichotomien wie gut (genug) und (zu) schlecht neu zu verhandeln und solche Themen weniger stark aus einer individuellen Perspektive zu sehen als aus einer gesellschaftlichen. Das erfordert vor allem ein Umdenken in der Gesellschaft: weg vom Leistungsgedanken, weniger Individualität und Selbstbestimmung zählen lassen, sondern mehr auf ein Miteinander, auf Kollektivität und eine Gemeinschaft mit vielseitigen Facetten setzen. Das beginnt schon bei den ganz Kleinen: Im Kindergarten und in der Schule sollte der Wert von Vielfalt vermittelt werden, der Nutzen und Gewinn von Zusammenarbeit und gegenseitigem Helfen. Schulsysteme sollten weniger starr auf ein bestimmtes Bewertungssystem, auf Prüfen und Abliefern, Druck und „in Form bringen“ ausgerichtet sein. Vor allem sollte der Wert der Menschen nicht in bestimmten Kategorien gemessen werden, in denen sie besser oder schlechter abschneiden; ein Anerkennen und Fördern von Begabungen, von Empathie und Mitgefühl hilft langfristig, Menschen beizubringen, sich selbst wertvoll zu fühlen und gleichzeitig anderen gleichermaßen Wert und Wertschätzung zuzugestehen und auch zukommen zu lassen.