Ich sehe was, das du nicht siehst, und das ist ... das Gleiche, das du siehst, nur anders interpretiert! So ließe sich kurz zusammenfassen, wie es kommt, dass zwei körperlich uneingeschränkte Menschen z.B. in einem Kippbild zwei unterschiedliche Strukturen erkennen. Oder dass zwei Politiker/-innen sich auf die gleichen empirischen Daten beziehen und daraus völlig konträre Schlussfolgerungen für ihre künftige Arbeit ziehen. Wie wir unsere Umwelt wahrnehmen, hängt in komplexer Weise von unseren bewussten und unbewussten Vorannahmen ab, mit deren Hilfe unser Gehirn unsere Sinneseindrücke permanent filtert.
Wie wir wahrnehmen
Schon längst hat die Psychologie die Vorstellung von den fünf Sinnen des Menschen verabschiedet. Erstens registrieren wir unsere Umgebung unwillkürlich immer mit mehreren Sinnesorganen zugleich und nehmen sie – zweitens – erst in Form der Interpretation wahr, mit der unser Gehirn die Eindrücke auswählt und ordnet. Augen, Ohren, Nase, Mund und Haut liefern als sogenannte Rezeptoren eine Fülle von Reizen (oder: Inputs), die über die Nervenbahnen weitergeleitet werden. Im Gehirn wird zum Beispiel ein Bild, das unsere Augen von einem Gegenstand sich gemacht haben, erst einmal vom Kopf auf die Füße gestellt: Die Netzhaut steht wie eine Linse zwischen optischem Reiz und Nerv und dreht alles, was sie passiert, um 180 Grad. Wir sähen die Welt auf dem Kopf, korrigierte unser Gehirn diesen offenbar verkehrten Eindruck nicht gewohnheitsmäßig und so schnell, dass wir es nicht merken.
Funktionale Interpretation der Umwelt
Von der gewaltigen Anzahl der Sinnesreize um uns herum wäre allerdings auch unser leistungsstarkes Gehirn überfordert, wenn es sie alle in unser Bewusstsein dringen ließe. Ein Eins-zu-eins-Abbild der Wirklichkeit kann und soll es auch gar nicht ermöglichen. Vielmehr konstruiert es Strukturen in die vorliegenden Daten, die es aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen und zum Zweck der Stillung elementarer Bedürfnisse bereits kennt und benötigt. Ein Beispiel für diese funktionale Interpretation: Wenn wir ein großes Tier, etwa einen Tiger, also eine potentielle Gefahr für uns, in einiger Entfernung hinter Bäumen in ungefähr gleichbleibender Geschwindigkeit vorbeischleichen sehen, „weiß“ unser Gehirn nicht nur, dass der Tiger nach wie vor da ist, auch wenn er zeitweise hinter einem Baum „verschwindet“. Es erwartet auch, ihn nach einer auf der Grundlage seiner Geschwindigkeit unwillkürlich berechneten Zeit wieder hinter dem Baum hervorkommen zu sehen.
Optische Täuschungen und die Gehirnarbeit beim Lesen
Viele Kunstwerke, die uns zu optischen Täuschungen verführen, belegen ebenso, dass unser Geist eher funktional als streng analytisch arbeitet. Wie viel wir von unseren Sinneseindrücken ignorieren, zeigt auch die Tatsache, dsas wir enien Txet acuh dnan onhe Plmeorbe lseen kneönn, wnen wgitesnnes der etrse und der lzette Btubhsace jdees Wteros ütimembsterinn: Unsere Erfahrungen mit den Millionen von Sätzen, die wir in unserem Leben schon gehört haben, legt nahe, wie ein einmal begonnener Satz weitergeht; wir entwerfen ihn unabsichtlich und unbemerkt beim Lesen im Voraus, als wären wir sein Urheber.
Priming und Framing
Zwei Formen subjektiver Wahrnehmung besitzen solche Bedeutung, dass die Psychologie sie eigens benannt hat. Sind implizite Gedächtnisinhalte durch einen Reiz aktiviert worden, beeinflussen sie unsere unmittelbar folgende Wahrnehmung. Ein Beispiel für dieses sogenannte Priming: Ein Brotlaib, der nur ganz kurz einer Testperson gezeigt wird, wird mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit richtig als solcher identifiziert, wenn zuvor das Bild einer Küche gezeigt wurde. Unter Framing wiederum versteht man den Effekt, dass die Einkleidung einer Botschaft den Empfänger entscheidend beeinflusst: Raucher bringt man eher mit Warnhinweisen auf Zigarettenschachteln von ihrem Laster ab, Nicht-Raucher dagegen besser mit der positiven Darstellung der Vorteile eines rauchfreien Lebens.