VON JANINA TOTZAUER
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04.10.2016 13:39
Konstruktiv Streiten
Streit gehört zum Menschsein wie das Lausen zum Affen. Von klein auf werden wir mit Konfliktsituationen konfrontiert und müssen diese mehr oder weniger gut lösen. Im Kindergarten schmeißen wir Puppen nach der besten Freundin, als Teenager knallen wir Türen und als Erwachsene schmollen wir uns neben dem Partner in den Schlaf. Damit nach dem Streit die Wunden wieder heilen können und keine verletzten Gefühle zurückbleiben, ist es wichtig „richtig zu streiten“.
Plastikfolie im Biomüll, der nasse Regenschirm, der im Wohnzimmer vor sich hin tropft, die Bartstoppeln im Waschbecken oder der lange versprochene Anruf, der doch nie erfolgt - oft genügt ein kleiner Auslöser nach einem langen stressigen Tag und die Emotionen kochen über. Ob in der festen Beziehung, mit den Eltern, der Mitbewohnerin oder dem besten Freund, Anlass zum Streiten gibt es immer, doch oft sitzt das eigentliche Motiv tiefer.
Wieso streiten wir?
Häufig ist der angezettelte Streit - so schrieb bereits Freud - nur eine Übersprunghandlung, die auf viel tieferen Gefühlen und unterdrückten Bedürfnissen beruht. So ist der Streit um den Wasserfleck eventuell nur ein Schrei nach Aufmerksamkeit vom Partner; die Plastikfolie im Biomüll nur ein Stellvertreter für die eigenen Minderwertigkeitsgefühle oder die Wut über die Bartstoppeln im Waschbecken nur eine verkappter Groll auf den Chef im Betrieb. Sich selbst und seine Bedürfnisse zu kennen und immer wieder von neuem zu reflektieren, kann in so manchem Fall einem Streit vorbeugen. Wenn es aber um ein tiefer sitzendes Motiv geht - eine Vorstellung, einen Wert oder ein Bedürfnis, das der Gegenüber nicht mit einem teilt - ist ein Streit oft nicht mehr zu vermeiden. Wenn die Gefühle dann überbrodeln, der Mund schneller ist als der Verstand und der Dezibelpegel deutlich ansteigt, bleiben danach oft Wunden zurück, die man hätte vermeiden können. Damit man die Beziehung zum Gegenüber im Streit nicht komplett zerstört, ist auch im Disput auf einige Regeln zu achten.
Wertschätzende Kommunikation
Mehr als das Senden und Empfangen von Worten: Wolf oder Giraffe? Mit welchem Ohr hören wir eigentlich?
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Wie streite ich richtig?
Im Alltag haben wir die Tricks der Kommunikation raus. Wir halten Smalltalk wie die Weltmeister, bringen hier und da gekonnt eine Floskel ein,
lächeln, wenn es die Konversation bedarf und suggerieren Anteilnahme am verpatzten Vorstellungsgespräch der besten Freundin, während man im Kopf nochmal die Einkaufsliste durchgeht. Je mehr sozialen Kontakt der Mensch pflegt, desto einfacher wird die Kommunikation. Umso unbegreiflicher scheint es da, dass all die Umgangsformen wie weggeblasen erscheinen, wenn es zu einer Konfliktsituation kommt. Doch auch beim Streit ist nicht nur das beste Argument, sondern vor allem die Art miteinander zu sprechen ausschlaggebend. Unzählige
Online-Ratgeber erklären in ellenlangen Listen, was eine Beziehung im Streit retten kann: ‚Dem anderen zuhören‘, ‚selbst zurückstecken‘, ‚Verantwortung zeigen‘ und ‚seine Gefühle vom eigentlichen Problem trennen‘ sind Spitzenreiter im Online-Crashkurs zur Streitbewältigung. Man solle einsehen, dass man nicht immer im Recht ist und versuchen, den Partner zu verstehen. Man solle nach jedem Streit die Beziehung stärken und
von Versöhnungssex absehen, da man so in Zukunft einen neuen Streit provoziere, nur um den Kick des Versöhnungssex’ wieder zu erleben. All diese Regeln sind leichter gesagt als getan und manch ein Streitender wird in all der Wut doch eher den Teller an die Wand schmeißen, als sich von einer Sekunde auf die andere auf die schönen Augenblicke der Beziehung zu besinnen und fröhlich jauchzend dem anderen in die Arme zu springen, um dann vernünftigerweise auf den Versöhnungssex zu verzichten. All diese Regeln scheinen jedoch auf einen wichtigen Aspekt hinauszulaufen, der nicht nur zur Lösung von Streits wichtig ist: Das eigene Ego hinten anstellen. Wer bereit ist, seinen Gegenüber ebenso wichtig wie sich selbst zu nehmen, vereint all die guten Ratschläge der Beziehungscoachs automatisch. Man lässt den anderen aussprechen, stellt seine Gefühle erstmal hinten an und versucht zu verstehen, was das Problem ist. Man kann konstruktive Vorschläge annehmen ohne sich selbst minderwertig zu fühlen und besteht nicht immer stur auf sein Recht. Vielleicht erwischt man sich so eines Tages dabei, die Plastikfolie im Biomüll süß zu finden, seine Vergesslichkeit mit einem Lächeln abzutun und ihren tropfenden Schirm im Wohnzimmer einfach weitertropfen zu lassen.
Vielleicht hatten unsere Mütter recht, als sie uns als Kinder mit dem Spruch „Der Klügere gibt nach, der Esel fällt in den Bach“ konfrontierten, der uns damals so gar nicht half, die Tränen um das letzte Stück Schokolade zu stoppen. Doch letztendlich kann ein Streit uns auch weiterbringen. Wir lernen etwas über eine uns nahestehende Person und uns selbst. Solange der Mensch streitet, hat er konkrete Vorstellungen und Bedürfnisse, und das macht uns menschlich.