VON CLEMENS POKORNY | 09.11.2016 15:39

Kindesmisshandlung heute: Wohlstandsverwahrlosung

Erziehung misslingt nicht nur, wenn sich Eltern gar nicht um ihre Kinder kümmern. Wer seinen Nachwuchs mit Geld statt Zuwendung bedenkt oder sich von ihm erziehen lässt, misshandelt seine Kinder ebenfalls. Nötig wäre vor allem viel Selbstreflexion seitens der Erziehungsberechtigten, um die Reichtums-Falle zu vermeiden, in die man heutzutage allzu leicht tappt.


Wenn früher ein Kind Probleme bereitete, bekam es meist Schläge und wurde äußerstenfalls ins Heim gesteckt. Väter hatten als unumstrittene Familienoberhäupter immer Recht und bekamen sonntags die besten Stücke vom Braten. Die „Schwarze Pädagogik“, in deren Geist noch viele unserer Eltern und Großeltern erzogen wurden, war von Strenge, unhinterfragbarer Autorität der Eltern qua deren sozialer Position und strikter Reglementierung des Lebens der Kinder geprägt. Die Heranwachsenden galten als unfertige Erwachsene, wurden nicht ganz ernst genommen und dementsprechend bei Familienfeiern an den „Katzentisch“ verbannt. Zugegeben: In manchen konservativen Familien geht es noch heute ähnlich zu. Doch während die Eltern tendenziell zu stark in das Leben ihrer Sprösslinge eingriffen, kann heute die entgegengesetzte Tendenz beobachtet werden.

Erziehung nach dem Motto „laisser-faire“ (etwa: „gewähren lassen“) beruht nicht selten darauf, dass Eltern zu wenig Zeit mit ihren Kindern verbringen und ihre Kinder daher die meiste Zeit das tun lassen, was diese wollen. Das muss nicht daran liegen, dass sie – oder ein alleinerziehendes Elternteil – den ganzen Tag über arbeiten und erst abends Zeit für Familie und Erziehung haben. Auch nicht erwerbstätige Väter und Mütter lassen ihre Kinder mitunter verwahrlosen – aus pädagogischer Unfähigkeit, Überforderung mit ihrem eigenen Leben oder Desinteresse. Ungefähr seit den 1980er-Jahren breitet sich, parallel zum zunehmenden Wohlstand, eine neue Form der Verwahrlosung aus: die Wohlstandsverwahrlosung. Sie betrifft vor allem die gehobene Mittelschicht und zeigt sich in verschiedenen Symptomen. Den Druck der Werbung oder der Peer Group, bestimmte Luxuswaren oder Markenprodukte zu besitzen, geben die Kinder an ihre Eltern weiter. Diese halten den Druck ebenfalls nicht lange aus – und zahlen. Anders als ihre Eltern und Großeltern haben sie ja meist das Geld dafür und wollen nicht arm erscheinen. Dass Liebe sich nicht erkaufen lässt, dürfte den meisten Eltern dabei durchaus bewusst sein. Die Kinder erleben zu wenige Frustrationen, wenn es um die Befriedigung ihrer Wünsche geht, und ertragen daher auch später Versagungen kaum. Weil sie glauben, sich alles erlauben zu können, entwickeln sie ihr Gewissen unzureichend, erkennen Regeln nicht an und haben ungesunde Schuldgefühle (entweder zu wenige oder zu viele). Auch die Beziehungsfähigkeit ist gestört, weil sie in der Familie von den Eltern nicht erlernt wird.

Kinder - die Konsumenten der Zukunft

Eine unter Pseudonym für die Süddeutsche Zeitung schreibende Realschullehrerin berichtete vor zweieinhalb Jahren von einem besonders krassen Fall: Ein Schüler verhielt sich in der Schule in jeglicher Hinsicht vorbildlich, doch im Elterngespräch stellte sich heraus, dass er daheim ein anderer Mensch war. Unerwünschte Lebensmittel landeten im Müll statt im Magen, der kleine Bruder wurde schon mal verprügelt, die Schlafenszeit bestimmte der Zwölfjährige selbst und Kommunikationsversuche der Mutter wurden meist ignoriert. Kommentar der verzweifelten Mutter: „Wenn er nicht will – ich kann ihn ja nicht zwingen!“ Ein anderes Beispiel aus eigener Erfahrung: Ein ebenfalls Zwölfjähriger lässt sich von seiner nicht berufstätigen Mutter alles kaufen. Aus Langeweile wirft er gerne Gegenstände vom Tisch. Die Mutter ist sogar bereit, sie aufzuheben; wenn er das nicht will, fordert er sie – wie einen Hund – erfolgreich dazu auf, am Tisch sitzen zu bleiben (wörtlich: „Sitz!“).

Selbstredend ist es leichter, einem Kind seine materiellen Wünsche zu erfüllen, als sich mit ihm darüber auseinanderzusetzen, warum es eventuell nicht nötig sein könnte, das neueste und teuerste Smartphone zu besitzen. Aber Bequemlichkeit reicht als Erklärung für das Phänomen der Wohlstandsverwahrlosung ebenso wenig aus wie der Verweis auf den Reichtum, der sie erst ermöglicht. Erstens fehlt vielen Eltern der Mut, sich auch selbst ganz bewusst unnötigem Konsum zu verweigern. Und zweitens dürfen sie nicht unbefriedigt gebliebene materielle Bedürfnisse aus ihrer eigenen Kindheit an ihrem Nachwuchs gleichsam nachholen; wer also beispielsweise selbst nie das ersehnte Pony bekommen hat, sollte es daher nicht ohne Weiteres für nötig halten, dass wenigstens seine Tochter diesen Wunsch sofort und bedingungslos erfüllt bekommt. Geschenke können fehlende Liebe und den Kindern gewidmete Zeit der Eltern niemals kompensieren. Die richtige Antwort auf die Schwarze Pädagogik unserer Vorfahren lautet daher nicht „Laisser-faire“, sondern eine autoritative Erziehung, die Kinder zugleich führt und wachsen lässt.