VON CLEMENS POKORNY | 09.10.2015 15:49

Weggesperrt – Kinderheime früher und heute

Kinderheime haben eine dunkle Geschichte. Wenn in früheren Zeiten die Jugend störte, wurde sie in solche Einrichtungen gebracht und bis in die 1970er-Jahre hinein unter Missachtung der Schulpflicht zum Arbeiten gezwungen. Bis heute ringen die Betroffenen mit den Folgen ihrer Misshandlungen. Und auch wenn sich mittlerweile vieles verbessert hat, muss sich unsere Gesellschaft die Frage gefallen lassen, warum Heime eigentlich nötig sind.

Kinderheime haben nicht erst seit den Skandalen um Misshandlungen in den letzten Jahren einen schlechten Ruf. Schon in der Nachkriegszeit drohten Eltern ihren Kindern, wenn diese nicht brav waren, mit dem „Heim“. Woher rühren diese negativen Assoziationen? Inwieweit drängen sie sich auch heute noch zurecht auf? Und wozu braucht es überhaupt Kinderheime?

Bevor Unterstützungsmaßnahmen für Familien, Kinder und Jugendliche staatlich etabliert wurden, behandelte man das Problem „schwieriger“ Heranwachsender, indem sie in Armen- und Arbeitshäuser weggesperrt wurden. 1833 gewann der 25-jährige Theologe Johannes Wichern führende Kräfte der Stadt Hamburg für seine Idee des „Rauhen Hauses“, in dem verwahrloste junge Menschen in familienähnlichen Strukturen unter Aufsicht väterlicher Erzieher miteinander lernten, arbeiteten und feierten, immer mit dem Ziel der Rückführung in die biologische Familie und in die Gesellschaft jenseits der Stiftung. Doch Wicherns Konzept wurde außerhalb der Hansestadt nicht übernommen. Bis in die 1970er-Jahre dominierten gefängnisähnlicher Drill und Ausbeutung der Arbeitskraft, gegenüber denen die (Aus-)Bildung meist zurücktrat.

Kann ich wollen, was ich will?

Die heute so genannte „Schwarze Pädagogik“ früherer Jahrzehnte ging davon aus, dass nicht falsche oder mangelnde Erziehung für problematisches Verhalten von Kindern und Jugendlichen verantwortlich war, sondern deren schlechter Charakter. Ziel pädagogischen Handelns war es demnach, den Heranwachsenden ihre schlechten seelischen Eigenschaften auszutreiben – mit Einschüchterung und Gewalt. Etwa 800.000 Kinder lebten in den 1950er- bis 1970er-Jahren alleine in Westdeutschland in Heimen und erlebten oftmals Grauenvolles. Schläge waren an der Tagesordnung. Eine Betroffene musste den gleichen Fraß essen wie die Schweine, die zu dem Heim gehörten, und als ihr Magen es einmal wieder auswürgte, wurde sie gezwungen, ihr Erbrochenes zu essen. Bettnässer in ihrem Schlafsaal wurden, nass wie sie waren, auf den Flur gestellt und mussten die ganze Nacht lang dort stehen bleiben. Die Kirchen, die damals drei von vier Heimen betreuten, verharmlosten die Misshandlungen in den Heimen jahrzehntelang (wie auch sexuellen Missbrauch) als Einzelfälle, bevor fünf Jahrzehnte später Historiker zu dem Schluss kamen: Gewalt wurde systematisch und flächendeckend angewandt, und sexueller Missbrauch kam häufig vor. Bis heute leiden die Betroffenen an den seelischen Folgen – und auch an den materiellen: Denn oftmals wurden sie zum Arbeiten (natürlich ohne Rentenversicherung) gezwungen und blieb ihnen die gesetzlich eigentlich garantierte Schulbildung versagt.

Auch in den letzten Jahren wurden immer wieder Misshandlungs- und Missbrauchsfälle bekannt, auf die jedoch fast immer sofort mit der Schließung der betroffenen Einrichtungen reagiert wurde. Schlechte Qualifikation der Betreuenden und Personalmangel aufgrund von Sparmaßnahmen (gerade in privatwirtschaftlich betriebenen Einrichtungen) dürften die Hauptursachen dafür sein, dass auch heute noch Kinder in Heimen menschenunwürdig behandelt werden. Schon alleine wegen der geringen Zahlen der Untergebrachten können Probleme nicht mehr so umfangreich werden wie früher: Ende 2011 lebten etwas über 65.000 Heranwachsende in Kinderheimen, das entsprach ca. 0,5% aller Minderjährigen in Deutschland. Leicht steigende Zahlen könnten auf eine Überforderung der Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder hindeuten. Die Unterbringung in einem geschlossenen Heim ist heute die ultima ratio und nur auf richterliche Anordnung hin möglich. Mit anderen Formen der Jugendhilfe lassen sich die meisten Probleme in den Griff bekommen. Gemeinsam ist fast allen davon, dass die Kinder und Jugendlichen, wie einst schon von Wichern konzipiert, in einer Gemeinschaft mit miteinander leben – sei es in den Familien der betreuenden Sozialpädagogen („Erziehungsstelle“), in einer Mutter-Kind-Betreuung innerhalb einer Einrichtung oder in der bereits klassisch zu nennenden „Jugendwohngruppe“ von etwa acht Betreuten und einem Betreuenden im Schichtdienst. Bei älteren Jugendlichen kann gelegentliche Unterstützung die Rund-um-die-Uhr-Betreuung ersetzen.

Trotz aller Verbesserungen stellt sich letztlich die Frage: Wozu überhaupt Kinderheime? Es ist die gleiche Frage wie nach dem Sinn von Altersheimen, die sogar in einigen europäischen Ländern unbekannt sind. In was für einer Gesellschaft leben wir eigentlich, in der der familiäre Zusammenhalt durch Individualismus und Egoismus so gering geworden ist, dass Junge und Alte, die nicht so funktionieren wie sie „sollen“, in Heime gesperrt werden? Muss es nicht nachdenklich stimmen, dass pädagogische und pflegerische Aufgaben nicht (mehr) von nahe stehenden Menschen übernommen werden?