VON CLEMENS POKORNY
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02.10.2015 12:45
Reiches Land – arme Kinder
Deutschland ist reich. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man sich seit der Kindheit nur in Kreisen ohne gravierende finanzielle Sorgen bewegt hat. Doch etliche Familien leben auch heute in Armut, fast ein Viertel aller Kinder hierzulande ist davon betroffen. Und Kinderarmut zeitigt oftmals verschiedene, langfristige, negative Folgen – ein Teufelskreis droht.
Wer UNI.DE und diesen Artikel liest, studiert wahrscheinlich. Wer studiert, kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einer bildungsnahen Familie ohne echte finanzielle Sorgen. Und wer aus einer bildungsnahen Familie ohne finanzielle Sorgen kommt, kennt nicht selten fast keine Familien, deren Kinder in Armut aufwachsen. Die frühe Trennung der Kinder nach der 4. Klasse, die meist entlang von sozialen Schichtgrenzen verläuft, schneidet den Kontakt zwischen Katharina und Chantal oder Johannes und Kevin ab.
Doch nicht nur Johannes und Katharina dürften vom Ausmaß der Kinderarmut in Deutschland böse überrascht sein. Jedes sechste Kind wächst in einem ALG-II-Haushalt auf, insgesamt ist sogar jedes vierte armutsgefährdet. Das heißt: 25% der Minderjährigen, insgesamt 2,1 Millionen Kinder und Jugendliche, haben Eltern, die zusammen über weniger als 60% des durchschnittlichen Netto-Monatseinkommens (bei einer vierköpfigen Familie: weniger als 1.848 Euro) verfügen. Kinder von Alleinerziehenden sind logischerweise am stärksten betroffen, weil häufig nur ein Erwachsener sie finanziell versorgt.
Auf Stipendiensuche: Geld gibt es genug
Und viel mehr Studenten kämen für ein Stipendium in Frage als aktuell unterstützt werden: Nur etwa ein Drittel aller Studenten hat sich jemals für ein Stipendium beworben, nur etwa 2% werden derzeit tatsächlich gefördert
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Die von „Hartz IV“ betroffenen Familien, in denen die Hälfte der armutsgefährdeten Kinder und Jugendlichen lebt,
leiden besonders unter der Geldknappheit. Sie sind
ungleich über Deutschland verteilt: Während in Berlin 33,5% und in Bremen 32,9% der Kinder in ALG-II-Haushalten leben, liegen die Werte im reichen Süden bei nur 7,3% (Bayern) bzw. 8,5% (Baden-Württemberg). Fast ein Fünftel dieser Kinder lebt in beengten Verhältnissen, und mehr als 75% von ihnen fahren nicht einmal für eine Woche pro Jahr in den Urlaub – wohl auch deshalb, weil sich fast 40% ihrer Elternhäuser kein Auto leisten können. Internet fehlt in fast 14% der ALG-II-Familien, in 10% gibt es sogar nicht einmal genügend Winterkleidung für alle Familienmitglieder.
Diese Einschränkungen haben
erhebliche langfristige, negative Folgen. Verzögerungen in der körperlichen, psychischen und sozialen Entwicklung kommen bei Kindern aus einkommensarmen Familien signifikant häufiger vor als bei anderen, weil die Eltern notwendige Arztbesuche vermeiden, weil die Kinder ihre Freunde nicht nach Hause einladen und selbst nicht in Sportvereinen mitmachen dürfen – immer ist Geldmangel der Grund. So erwerben solche Kinder
häufiger niedrigere Bildungsabschlüsse – ein Teufelskreis beginnt. Vor allem in strukturschwachen Regionen in Teilen Ostdeutschlands oder auch im Ruhrgebiet pflanzen sich die mit Einkommensarmut verbundenen Probleme teilweise schon über Generationen innerhalb einer Familie fort.
Natürlich leiden alle Familienangehörige unter der Geldnot. Doch Kindern als der heranwachsenden Generation, die in keinem Fall für die prekäre Lage der Familie verantwortlich gemacht werden kann, werden durch Armut viele Chancen genommen. Durch die Ankunft hunderttausender Flüchtlinge, zu 80% junge Menschen unter 35 Jahren, in diesem Jahr verschärft sich das Problem noch. Denn erstens hat schätzungsweise die Hälfte von ihnen noch kein(e) abgeschlossene(s) Berufsausbildung/Studium und zweitens spricht fast niemand unter ihnen Deutsch, selbst ausreichende Englischkenntnisse sind selten. „Gewerkschaften warnen vehement davor, dass durch einen solchen Niedriglohnsektor Flüchtlinge und Arbeitslose gegeneinander ausgespielt würden“,
berichtet die FAZ. Und so kommt sogar die unternehmensnahe Bertelsmann-Stiftung
in einer Studie zu dem Schluss, dass die sozialen Leistungen, insbesondere das ALG II, angehoben bzw. ausgebaut werden müssten. Noch plant die Bundesregierung allerdings solche Schritte nicht.