VON JANINA TOTZAUER | 11.08.2017 13:40

Imperialismus: Von afrikanischen Wurzeln und europäischen Früchten

Freie Meinungsäußerung, freie und geheime Wahlen, freie Religionsausübung - viele sehen Europa als den Grundstock der Freiheit selbst. Europäer zu sein bedeutet sich mit einer althergebrachten Kultur und wirtschaftlicher Stabilität zu schmücken. Einen europäischen Pass zu besitzen ist oftmals gleichbedeutend mit uneingeschränkter Reisefreiheit. Der heutige Europäer erntet mit vollen Händen die Früchte einer Jahrtausende alten Geschichte und übersieht oft in welch misslichen Verhältnissen Europa wurzelt. UNI.DE öffnet das leidige Kapitel des ehemaligen Imperial-Kolonialismus Europas.


Großbritanniens Wurzeln erstreckten sich von Ägypten über den Sudan und Zambia bis nach Südafrika; Das britische Großreich verschluckte Indien, Kanada und Australien. Frankreichs Wurzeln nähren sich, von Marokko bis zum heutigen Chad, praktisch von der gesamte nordwestliche Ecke Afrikas. Napoleon verschlang große Teile Mittel- und Südamerikas wie Chile, Mexiko und Peru. Deutschland stürzte sich auf die Gebiete, die heute Namibia und Tansania angehören. Portugal und Spanien teilten sich Südamerika auf. Belgien beschränkte sich auf den Kongo und übernahm nach dem ersten Weltkrieg ein verwüstetes Ruanda-Urundi von den Deutschen. Die Liste der europäischen Kolonien könnte noch über Seiten fortgeführt werden und zeugt vom einstigen klassischen Imperialismus, der ab etwa 1870 bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges die europäische Antwort auf die Frage nach Macht und Reichtum war.

Große Brüder und kleine Schwestern

Europa hatte gerade das Mittelalter und seine Gräuel hinter sich gelassen. Inquisition und Pest gehörten der Vergangenheit an; Dampfmaschine und mechanischer Webstuhl läuteten das Zeitalter der Industrialisierung ein. Das erleichterte Bürgertum atmete tief durch und den Ruß der neuen Fabriken ein. Europas Maschinen ratterten im Akkord, um Rohstoffe in Produkte zu verwandeln. Doch woher hatte Großbritannien seine Kohle und sein Erz? Woher Antwerpen seine Diamanten? Woher bezog die Queen ihren Tee und die Holländer ihre Tulpen? Woher kamen das Gold in den Münzen Europas und die Baumwolle im Jackett Napoleons?

Der erste deutsche Genozid

Sowohl der Mangel an Rohstoffen, als auch die Neugierde am Fremden ließen die Entdecker des 19. Jahrhunderts an den Küsten fremder Länder andocken. Die Landnahme war den Kolonialmächten durch die politische Schwäche der besetzten Gebiete dabei so leicht wie nur irgend möglich gemacht. Europa glich dabei einem sadistischen großen Bruder, der dem kleinen, hilflosen Schwesterchen ohne großen Aufwand fortgehend das Pausenbrot klaute und seinen Diebstahl kurioserweise auch noch als sein Recht deklarierte. Als wäre das Pausenbrot nicht schon genug gewesen, ging der große Bruder Europa dazu über, seine unzähligen kleinen Schwestern zu versklaven, damit sie ihm die Butter auf das Brot schmierten, während sie selbst nur die übrigen Krümel aßen. Imperialismus bedeutet in diesem Sinne die militärische Machtausübung eines Regenten über ein externes Gebiet. Für die Mehrzahl an Kolonialgebieten hieß das die Ausbeutung ihrer natürlichen Rohstoffe und Arbeitskräfte. Im Gegenzug schimpfte sich der Europäer als gütiger Überbringer von Kultur und Ordnung. Er „tauschte“ Rohstoffe und Sklaven gegen das Christentum und eine „zivilisierte“ Lebensweise. Da sei es dahingestellt, wie viele Kinder ein kongolesischer Familienvater mit siebzehn Vaterunser und einem feinen europäischen Gang ernähren konnte.

Unabhängigkeit ist nicht gleich Unabhängigkeit

In den Geschichtsbüchern endet der klassische Imperialismus 1960 im sogenannten Afrikanischen Jahr, als viele Länder ihre Unabhängigkeit zurückerlangten. Doch obwohl Europa rechtlich keine Ansprüche mehr auf seine ehemaligen Kolonialgebiete hat, besteht nach wie vor eine wirtschaftliche Abhängigkeit. Europa trägt mit seinen Industrien und Bruttoinlandsprodukten die Früchte aus, während sich die Wurzeln noch immer aus den im Chaos zurückgelassenen ehemaligen Kolonialgebieten nähren. Statt der Schwester zur Selbstständigkeit zu helfen, schaut der heutige große Bruder Europa seiner Schwester dabei zu, wie sie ihm ganz „freiwillig“ das Butterbrot gegen ein paar Krümel verkauft. In Indien nähen sich junge Mädchen für die Kleiderschränke „zivilisierter“ Europäerinnen die Finger wund und in Südafrika lassen sich ausschließlich heimische Avocados zweiter Klasse in den Supermarktregalen anfinden, während der Europäer sich Klasse A in den Salat schneidet. Die Macht liegt nach wie vor in den Überbleibseln des ehemaligen, europäischen Imperiums und seinem zusammengestohlenen Reichtum.

Karl Kautsky, ein Theoretiker und Mitglied der SPD während des deutschen Kaiserreiches, sah eine Steigerung und gleichzeitig eine Aufhebung des Imperialismus im Ultraimperialismus. Dieser sollte ohne Gewalt den Freihandel stärken und jegliche Konkurrenz unter den großen und kleinen kapitalistischen Mächten durch Schließung von Bündnissen aufheben. Damit dieser Frieden nicht nur eine „Atempause“ zwischen den Kriegen bliebe, müsse - laut Marx - der Ultraimperialismus weitergeführt werden. Eine wichtige Rolle könnte dabei die Globalisierung spielen, welche jedoch nicht nur marktwirtschaftlich, sondern auch auf der sozialen Ebene zu betrachten wäre. Denn nur wenn der ehemalige Kolonialstaat seinen Schwestern sowohl fairen Handel als auch ebenbürtige Menschen- und Arbeitnehmerrechte, ökologische Standards und Demokratie zugesteht, darf sich die Globalisierung global nennen und den Imperialismus ablösen.