VON LISI WASMER
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03.03.2014 15:12
Nicht nur auf der Leinwand: Sklaverei im Hier und Jetzt
Es ist ein Phänomen, von dem man im Allgemeinen glaubt, es sei längst nicht mehr aktuell: Wer über Sklaverei spricht, der denkt an den Lateinunterricht, an Gladiatorenkämpfe im Alten Rom, oder – zumal das Thema gerade in den letzten Jahren verstärkt in großen Filmproduktionen aufgegriffen wurde – an Amerika und Abraham Lincoln, an Südafrika und Nelson Mandela. Sklaverei, das gab es früher. Sklaverei ist nicht mehr aktuell. Auf welche fatale Weise diese Einschätzung falsch liegt, zeigt der 2013 erstmals veröffentlichte „Global Slavery Index“: Die Urheber schätzen die Anzahl von Menschen, die in moderner Sklaverei leben, auf knapp 30 Millionen, mehr als 75 Prozent dieser Menschen leben allein in den zehn Nationen mit dem größten Anteil an Sklaverei. Der Index listet 162 Nationen.
Sklaven waren keine Menschen. Sklaven waren Dinge. Sklaven waren das Eigentum ihrer Herren, die mit ihnen frei nach ihrem Gutdünken verfahren haben. So lernt man es im Lateinunterricht oder wenn in Geschichte Abraham Lincoln und die Abschaffung der Sklaverei in den USA durchgenommen wird. Die Definition ist nicht per se falsch. Der Fehler liegt im Tempus. Denn die Sklaverei kann nicht als eines von vielen dunklen Kapiteln im Buch der Menschheitsgeschichte abgetan werden. Tatsächlich ist Sklaverei aktueller denn je. Auf ebenso eindrucksvolle wie erschreckende Weise zeigt das der erste „Global Slavery Index“ der australischen Anti-Sklaverei-Organisation „Walk Free Foundation“.
Die "ersten" Amerikaner – Indianer in den USA
Die Spuren, welche die Entdeckung Amerikas im 15. Jahrhundert und die anschließende Kolonialisierung durch die Europäer mit sich brachten, sind auch heute noch deutlich wahrnehmbar
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Weit weg, lange her?
London, November 2013: Die Polizei verhaftet ein etwa 70-jähriges Paar wegen Sklavenhaltung und Leibeigenschaft. In ihrem Haus hatten sie drei Frauen über mehr als 30 Jahre festgehalten. Was in der Medienlandschaft weltweit für Furore sorgt, scheint abstrus, unvorstellbar, fast schon unglaublich. Sklaverei, in unserer Zeit, in unserer Gesellschaft. Dabei schätzten die Vereinten Nationen laut
Tagesspiegel die Zahl der weltweit in Sklaverei lebenden Menschen bereits damals auf mehr als zwölf Millionen und somit auf eine Zahl, die höher liegt als jemals zuvor. Die im Global Slavery Index 2013 veröffentlichten Zahlen übertreffen diese Zahl um ein Vielfaches: Knapp 30 Millionen Menschen leben weltweit als moderne Sklaven. Die zehn Länder mit der höchsten Anzahl versklavter Einwohner sind Indien, China, Pakistan, Nigeria, Äthiopien, Russland, Thailand, der Kongo, Myanmar und Bangladesch. Diese traurige Top Ten macht bereits 76 Prozent aller in Sklaverei lebender Menschen aus.
Aber auch in Europa gehört Sklaverei noch lange nicht zur Geschichte. Von 162 Ländern belegt Deutschland Rang 136, Italien liegt auf Platz 132, die Türkei hält Rang 90. Egal wo, Fakt ist, dass es eine moderne Form der Sklaverei gibt, dass vor allem Frauen und Kinder betroffen sind, dass sie als Soldaten oder Arbeitskräfte ausgebeutet, dass sie prostituiert und misshandelt werden.
Sklaverei im Teebeutel
Vielleicht erscheint uns das so unvorstellbar, weil wir nicht verstehen können, wie es dazu kommt. Wir hören von Menschenrechtsverletzungen, aber wir können uns nicht vorstellen, wie es ist, wenn Kinder verschleppt werden, wenn junge Frauen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in Großstädte gelockt werden, wo sie von Menschenhändlern als Haushaltshilfe verkauft oder zur Prostitution gezwungen werden, wenn sechs-jährige Jungen zu Kindersoldaten rekrutiert werden und diejenigen, die sich aus irgendwelchen Gründen als untauglich erweisen, verstümmelt werden, damit sie mehr Mitleid erfahren und der
Bettelmafia so mehr Gewinn einbringen.
Einen Einblick in die Methoden der Menschenhändler gibt beispielsweise der auf der Guardian-Website veröffentlichte
Beitrag über eine Plantage in Indien, wo unter anderem die Teeblätter für den weltweit zweitgrößten Teehersteller Tetley angebaut werden. Eine Packung mit 240 Teebeuteln kann im Internet für knapp 15 Euro gekauft werden. Die Arbeitslöhne auf der Plantage sind hingegen so gering (91 Pence pro Tag, das entspricht circa 1,10 Euro), dass junge Mädchen nur allzu leicht Opfer von Menschenhändlern werden, die sie und ihre Familien auf der Plantage besuchen und ihnen eine lukrativere Arbeit, beispielsweise in Delhi, versprechen. Zum Zeitpunkt der Filmaufnahmen wurden insgesamt 14 Mädchen der Plantagenfamilien vermisst.
Ebenen der Bekämpfung
Im selben Beitrag wird auch über die indische Kinderrechtsbewegung Bachpan Bachao Andolan (
BBA) berichtet. Die Mitarbeiter helfen den Plantagenfamilien bei der Suche nach ihren Kindern, sie arbeiten mit der Polizei zusammen, um verschleppte Mädchen zu finden, zu befreien und ihre Peiniger rechtlich zu belangen. Rund 2.600 Mädchen konnten sie bereits retten. Eine Zahl, die Hoffnung macht – und doch verschwindet gering ausfällt im Vergleich zu laut Global Slavery Index 2013 knapp 14 Millionen versklavten Menschen in Indien.
Bei allen negativen Nachrichten: Sowohl die BBA als auch der Global Slavery Index zeigen Wege zur Bekämpfung moderner Sklaverei auf – sei es direkt und vor Ort oder durch die Schaffung eines allgemeinen Bewusstseins für die betreffenden Missstände weltweit, unterfüttert mit wissenschaftlich erhobenen Zahlen, die – eindrücklich aufbereitet – über das Internet der breiten Masse zur Verfügung gestellt werden. Es gibt sie also: die Chance, hier einen Erfolg zu erringen. Inwiefern sie genutzt wird, mag der nächste Slavery Index offenbaren.