VON ANGELA SCHWEIZER | 07.07.2016 10:52

Der erste deutsche Genozid: Deutschlands ungesühnte Kolonialverbrechen in Namibia

Was ist ein schlimmer, als ein Traumaopfer zu sein? Ein Traumaopfer zu sein und nicht als solches anerkannt zu werden. Dies gilt für das Volk der Herero und Nama in Namibia. Seit vielen Jahrzehnten kämpfen die Nachkommen der wenigen Überlebenden des Genozids gegen die Bundesrepublik Deutschland und für eine Anerkennung des ersten von Deutschland verübten Genozids, der im damaligen Kolonialgebiet Deutsch-Südwestafrika stattfand. UNI.DE hat die Geschichte des deutschen Kolonialismus und die Rolle deutscher Frauen in den Kolonien recherchiert und sich gefragt, warum die Bundesrepublik die Anerkennung verweigert und wie die Kolonialzeit bis heute nachwirkt.


„Jeder Herero wird erschossen“

"Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen. Das sind meine Worte an das Volk der Herero. Der große General des mächtigen Deutschen Kaisers." Im Oktober 1904 erließ der Oberkommandierende der Kaiserlichen Truppen, General Lothar von Trotha, den Befehl zum Völkermord an der einheimischen Bevölkerung in Deutsch-Südwestafrika, das sich Deutschland seit 1884 als Kolonie einverleibt hatte. Dem anschließenden Vernichtungskrieg fielen mindestens 65.000 Herero zum Opfer, was 80 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung der Herero entsprach. Von den 20.000 Nama, die vor dem Massenmord gezählt wurden, überlebten 9.000. Die überlebende Bevölkerung wurde in Konzentrationslager gesteckt. Obwohl das Massaker auch unter Historikern inzwischen eindeutig als Völkermord eingestuft wird (einige bezeichnen es sogar als Vorläufer des Holocaust), steht eine Anerkennung und Entschuldigung seitens der deutschen Regierung noch aus.

Die Errichtung des deutschen Kolonialregimes in Namibia

1883 ging für die Deutschen ein Traum in Erfüllung, den schon viele Generationen vor ihnen mit neidischen Blicken auf die französischen und englischen Gebiete in Übersee träumten: Der Bremer Tabakhändler Adolf Lüderitz erwarb von dem Nama-Häuptling Josef Frederiks ein 580.000 Quadratkilometer große Bucht im heutigen Namibia, die sogenannte Lüderitzbucht. Mit der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 begann die Erschließung der kolonialen Gebiete, die die Koloniallobby als neuen Lebensraum für die rasant wachsende deutsche Bevölkerung anpries. Da Indien bereits an die Briten und Lateinamerika an die Spanier „vergeben“ war, zog Deutschland es vor, sich in dem bis dahin noch wenig erkundeten afrikanischen Kontinent seinen „Platz an der Sonne“ zu sichern. Bismarcks anfängliche Idee eines „Kaufmannregimes“ scheiterte, und so wurden nach und nach Gouverneure eingesetzt, die die weiße Vorherrschaft in Afrika mit Gewalt durchsetzten. Versklavung, Vertreibung und Mord an der einheimischen Bevölkerung, sowie eine immer aggressivere Siedlungspolitik führten schließlich zu einem Gegenschlag der Herero. Am 12. Januar 1904 griffen sie deutsche Farmen an: Mehr als 100 Menschen, darunter auch vereinzelt Frauen und Kinder, wurden getötet. Da die deutschen Siedler den damaligen Schutzbeauftragten der Kolonie, Theodor Leutwein, als zu „unentschlossen“ für den darauffolgenden Rachefeldzug hielten, schickten die Machthaber in Deutschland den rassistischen Hardliner Lothar von Trotha in die Kolonien. Bei der Entscheidungsschlacht am 11. August 1904 am Waterberg verloren Tausende Herero und Name ihr Leben. Die Überlebenden flohen mit ihren Frauen und Kindern in das karge Wüstengebiet der Omaheke. Der Vernichtungskrieg nahm seinen Lauf, und so verhungerten und verdursteten Zehntausende in der Wüste, oder wurden bei dem Versuch zurückzukehren von den Deutschen ermordet. Als zwei Monate später Trothas Vernichtungsbefehl mit einem Telegramm aus Berlin aufgehoben wurde, wurden die wenigen Überlebenden Herero und Nama in Konzentrationslager gesperrt.

Das danach entstandene deutsche „Schutzgebiet“ war ein rassistischer Apartheitsstaat: Durch die sogenannte Eingeborenenverordnung wurde die Freiheit der namibischen Bevölkerung durch Pass- und Meldepflicht erheblich eingeschränkt, sie wurde gezwungen neben den Wohn- und Arbeitsstätten der Deutschen in Ghettos zu wohnen, außerdem wurde sie durch ein Verbot von Landerwerb und Viehhaltung ihrer traditionellen Existenzgrundlage beraubt.

„Geeignetes Mädchenmaterial zur Erhaltung der Rassenhygiene“: Die Rolle deutscher Frauen in den Kolonien

Ebenso unter deutscher Herrschaft standen Togo, Kamerun, Tansania, Burundi und Ruanda. Trotz der jahrzehntelangen grausamen Herrschaft, Zwangsarbeit, Folter, Vergewaltigung, dem Menschen- und Ressourcenraub wurde in Deutschland die Kolonialgeschichte bisher bagatellisiert, ignoriert oder sogar glorifiziert. Weder in Schulen noch in anderen Bildungseinrichtungen findet eine Aufarbeitung statt. Noch größere historische Amnesie wird der Rolle der deutschen Frauen an den Kolonialverbrechen zuteil. Kolonialpolitik gilt als Männerpolitik. Da sich viele Frauen, insbesondere aus dem gehobenen Bürgertum im „Mutterland“ jedoch Sorgen um die „Erhaltung des Deutschtums“ in den Kolonien machten, gründeten sie im Jahre 1913 den „Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft“ (FDKG). Deutsche Frauen betrieben somit in den Kolonien aktive Kolonialpolitik, obwohl sie innerhalb Deutschlands bis 1919 von der Regierungs- und Parlamentsarbeit ausgeschlossen waren. Die Vorsitzende des FDKG, Hedwig Heyl, machte es sich zur Lebensaufgabe, „Frauen für die Kolonisten auszusuchen, Siedlungen durch Ehen zu befestigen und überhaupt geeignetes Mädchenmaterial zu verschicken“. Der deutsche Sozialdarwinismus und der Größen- und Rassenwahn, manifestierte sich in der Ideologie des FDKG, so war eines ihrer Hauptziele, die weitere „Verkafferung“ deutscher Kolonien zu verhindern. Obwohl Mischehen seit der Niederschlagung des Herero-Aufstandes verboten waren und den daraus hervorgegangenen Kindern die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen wurde, klagten die Frauen des FDKG, es gebe immer noch viele deutsche Männer ohne „Rassenbewusstsein“. Nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages im Jahre 1920 verlor Deutschland alle Kolonien in Afrika. Der FDKG bestand trotzdem bis zum Jahre 1943 fort, um den „kolonialen Gedanken“ aufrecht zu erhalten.

Bundesregierung will sich noch in diesem Jahr entschuldigen

Bundestagspräsident Lammert gebrauchte erstmals im Juli 2015 öffentlich das Wort „Völkermord“, genau 100 Jahre nach Ende der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia. Er sprach im Bundestag von einem „Rassekrieg“ und verwies auf die vielen Toten durch Konzentrationslager und Zwangsarbeit. Trotzdem blieb eine offizielle Anerkennung bisher aus, unter Berufung auf die fragwürdige Begründung, dass der Tatbestand des Völkermordes erst seit 1948 existiert. In dieser Logik ist also alles, was davor stattfand, kein Völkermord. Die gleiche Begründung wird auch von der türkischen Regierung in Bezug auf den Völkermord an den Armeniern verwendet. Noch in diesem Jahr solle es allerdings von der deutschen Regierung eine Entschuldigung geben, so der CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz, der seit 2015 als Sonderbeauftragter der Regierung für die Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit tätig ist. Eine finanzielle Entschädigung in Form von Reparationszahlungen ist nicht vorgesehen.

Deutschland ist mit seiner Haltung nicht allein, auch die anderen europäischen Kolonialmächte haben bis heute ihre Verbrechen nicht anerkannt. Der französische Staatspräsident nannte die Kolonialherrschaft in Algerien zwar „ungerecht und brutal“, verweigerte aber, wie seine Vorgänger, eine Entschuldigung für die Kolonialverbrechen. Der algerische Unabhängigkeitskrieg forderte etwa 17.000 Opfer auf französischer und 300.000 Opfer auf algerischer Seite, das Verhältnis zwischen Frankreich und Algerien gilt deshalb bis heute als angespannt.

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Wie der Kolonialismus bis heute nachwirkt

Statt Erinnerung, Aufarbeitung und Wiedergutmachung der historischen Schuld, wird weiter verdrängt. Dabei hängen viele aktuelle Konflikte, Armut und Unterentwicklung auf dem afrikanischen Kontinent mit dem europäischen Kolonialismus zusammen, der gewaltsam Denk- und Gesellschaftsstrukturen errichtete und willkürlich Grenzen zog. Angefacht wird dies durch europäische Waffenlieferungen, sowie durch die zunehmende Externalisierung der europäischen Grenzüberwachung auf afrikanische „Transitstaaten“. Ungleiche und ausbeuterische Handelsbeziehungen erschweren nach wie vor die Existenz der afrikanischen Märkte, durch die Wegnahme von Land und natürlichen Rohstoffen wird die Lebensgrundlage der einheimischen Bevölkerung zerstört. Auch in Namibia leiden die Herero und Nama bis heute unter den wirtschaftlichen Folgen der Enteignung, die während des Genozids stattfand. Zudem ist in kaum einem anderen Land die Kluft zwischen Arm und Reich größer.

Auch der Rassismus in Europa ist die Folge von der jahrhundertelangen Abwertung der Menschen außerhalb Europas, was schließlich das koloniale Projekt legitimierte, da die kolonisierten Menschen als minderwertig galten und ihnen keine Menschenrechte zugesprochen wurden. Das „Vergessen“ deutscher Kolonialgeschichte ist jedoch keine zufällige Amnesie, sondern Teil europäischer Herrschaftsideologie. Denn auf kolonialrassistische Markierungen und Bezeichnungen wird nicht verzichtet. Schon 1984 erzählt die afro-deutsche Wissenschaftlerin, Autorin, Logopädin und Gründungsmitglied der Initiative Schwarzer Deutscher, May Ayim, von dem Stress, unter dem schwarze Menschen in Deutschland ständig stehen, sich gegenüber Weißen als intelligent und progressiv beweisen zu müssen, und gleichzeitig mit Alltagsfloskeln und Redewendungen konfrontiert zu sein, „die Schwarzsein per se als hässlich, minderwertig und unerwünscht abqualifizieren“ (Ayim 1997: 113). Begriffe wie „Schwarzfahren“, jemandem den „Schwarzen Peter“ zuschieben oder „schwarz sehen“, beruhen auf einer jahrhundertelangen Abwertung und Demütigung von Schwarzsein und schwarzen Menschen. Da der deutsche Kolonialismus auch geschichtlich nicht aufgearbeitet wurde, konnte hierzu keine kritische Haltung entstehen, anders als zum Nationalsozialismus. So gibt es heute immer noch Straßennamen und öffentliche Plätze, die nach Kolonialverbrechern benannt sind. Ein Studentenwohnheim in Hamburg trägt sogar den Namen Lothar von Trotha.

Erwähnte Quelle: Ayim, May. 1997. Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte.

Bild: "Namibia, herero family" von Angèle Poussin via flickr.com. Von UNI.DE zugeschnitten und mit ©-Hinweis versehen. Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0.