VON CLEMENS POKORNY | 20.01.2016 16:16

Wirtschaft? Sechs, setzen!

In Baden-Württemberg wird es ab kommendem Schuljahr „Wirtschaft“ als eigenständiges Unterrichtsfach geben, nicht mehr im Verbund mit Geographie, Politik oder anderen verwandten Disziplinen. Wichtige Interessensgruppen fühlen sich bei der Einführung übergangen und befürchten zu großen Einfluss der Unternehmen auf den Unterricht, Wirtschaftsvertreter hoffen auf eine Verbreiterung der ökonomischen Allgemeinbildung – und darauf, dass das Fach in Deutschland Schule macht.


Der PISA-Schock im Jahr 2002 zeitigte Folgen: Lehrpläne wurden in bisweilen bedenklich radikalem Maße entschlackt, als Lernziele wurden Kompetenzen statt Inhalte definiert und die Gymnasialzeit wurde um ein Jahr auf acht Jahre verkürzt. Noch immer sei die deutsche Schule zu praxisfern, monieren kritische Stimmen. Baden-Württemberg will seine Jugend nun durch die intensivere Vermittlung von Wirtschaftsthemen näher an die Arbeits- und Berufswelt heranführen.

„Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung“ heißt dementsprechend das Unterrichtsfach, das ab dem Schuljahr 2016/17 an allen weiterführenden Schulen im Ländle unterrichtet wird. An den Gymnasien ab der 8. Klasse, an den anderen Schularten schon ein Jahr früher und mit mehr Wochenstunden.

Egoismus oder Gemeinschaftssinn

Das Fach soll die Lernenden auf ihre sozialen Positionen (veraltet: Rollen) als „Verbraucher, Erwerbstätige und Wirtschaftsbürger“ vorbereiten. Besonderen Wert legt die zuständige Kommission als Urheberin des entsprechenden „Bildungsplanes“ auf die verschiedenen Ebenen, auf denen die Entscheidungsprozesse (z.B. bzgl. Konsum oder Berufswahl) ablaufen: die individuelle, die Beziehungs- und die Systemperspektive. Das bedeutet: Im weitesten Sinne wirtschaftliche Entscheidungen sollen vorangehende Erwägungen einschließen, in denen die Lernenden ihre eigenen Fähigkeiten und Wünsche ebenso reflektieren wie Prozesse auf zwischenmenschlicher Ebene und Rahmenbedingungen unseres Wirtschaftssystems. Konkretere Kompetenzziele hat das baden-württembergische Kultusministerium derzeit noch nicht im Internet veröffentlicht. Doch schon jetzt ist klar: Indem sie Wirtschaft einen stärkeren Stellenwert an den Schulen beimisst, reagiert die Landesregierung auf Studien, denen zufolge Jugendliche hierzulande viel zu wenig über Versicherungen, Steuern, Mietverträge oder die Vielfalt an Studienfächern und Berufen wissen.

Das hatte im Frühjahr bereits eine Schülerin in einem viel beachteten Tweet bemängelt. Und wie bei UNI.DE dazu bereits angemerkt wurde, bleibt die Frage, ob und, wenn überhaupt, inwieweit diese Themen in der Schule behandelt werden sollten. Bieten nicht Familie, Freunde und das Leben selbst Orientierung genug bei der Aufgabe, wirtschaftliche Herausforderungen zu meistern?

Fachvereinigungen wie GEW und Philologenverband wurden übrigens in die Diskussion um die Bildungsziele des neuen Faches nicht einbezogen. Sie kritisieren vor allem, dass die Wirtschaft in den baden-württembergischen Schulen abgeschnitten von ihrem soziologischen Kontext betrachtet werden soll. Prof. Dirk Lange von der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung hat bereits Einsicht in den Entwurf des Bildungsplans nehmen können. Er zeigt sich entsetzt über ein Fach, das soziale Wirklichkeit vermittels einer Disziplin alleine zu erschließen behauptet, in dem „kontroverse Sichtweisen auf Wirtschaft (...) nicht vorgesehen“ seien und das von den Lernenden nur „wie ein Naturphänomen“ nachvollzogen werden statt in seinem Kontext untersucht werden soll. Kein Wunder, dass eine private, wirtschaftsnahe Initiative, die „Dieter von Holtzbrinck Stiftung“, die Einführung des neuen Schulfaches vorangetrieben hat und weiterhin begleitet.

So stimmt schon die Tatsache, dass Wirtschaftslobbyisten, nicht aber Fachleute aus dem Bildungssektor oder gar die Allgemeinheit Einfluss auf die Bildungsplangestaltung nehmen durften, skeptisch. Dabei braucht man wohl nicht zu befürchten, dass künftig lauter kleine BWLer aus dem Fach Wirtschaft hervorgehen könnten. Aber ebenso wenig darf man darauf hoffen, dass die Lernenden in der Schule dazu angeleitet werden, ökonomische Prozesse und Systeme kritisch zu reflektieren. Der Streit um das Fach wird in Baden-Württemberg wohl vorerst weitergehen.