VON CLEMENS POKORNY | 10.10.2016 13:11

Geisteswissenschaften: Nutzlos und hinfällig?

Geisteswissenschaften gelten vielen Zeitgenossen – vor allem solchen, die sich nie näher damit befasst haben – als „nutzlos“. Diese Bewertung reflektiert leider unverkennbar die Zeit, in der sie geäußert wird. Dabei ist schon eine Definition des Begriffes „Geisteswissenschaften“ problematisch – der Nutzen von Germanistik, Albanologie und ähnlichen Fächern lässt sich dagegen leicht erweisen.

„Sei Bua, der hod studiert mit rote Ohr'n. Nach zwanz'g Semester is er fertig wor'n. Der Papa fragt sie nur: Zu wos? Der Bua ist jetzt noch orbeitslos!“ So besang die österreichische Band EAV im Jahr 1983 einen rechten, kleinbürgerlichen Spießer – und seine Meinung von brotlosen Studienfächern. Das Klischee vom taxifahrenden Geisteswissenschaftler hält sich freilich nicht zufällig hartnäckig: In Germanistik oder Geschichte Ausgebildete verfügen an sich nicht über Kenntnisse, die in der Wirtschaft jenseits von Journalismus und Verlagswesen relevant sind. Doch sind Geisteswissenschaften überhaupt an der Universität überflüssig, wie ein User im Schutze der Anonymität im Internet befindet?

Was sind Geisteswissenschaften?

Problematisch ist an dieser Bewertung bereits, dass unklar bleibt, was überhaupt unter Geisteswissenschaften verstanden wird. Bis heute gibt es dafür keine allgemein anerkannte Definition. Traditionell werden Sozial- und Naturwissenschaften davon abgegrenzt, Literatur- und Kulturwissenschaften hingegen zählen auf jeden Fall dazu. Wie steht es aber mit Philosophie, Jurisprudenz oder Mathematik? Geisteswissenschaften beschäftigen sich ihrem Namen zufolge mit dem menschlichen Geist und seinen Produkten; Philosophie richtet sich aber nicht nur auf anthropogene Gegenstände, und Mathematik findet Zahlen zwar auch, aber nicht nur in der Natur, kann also zumindest keine Naturwissenschaft sein. Jurisprudenz hat aufgrund der allgemeinen Verbindlichkeit der von ihr untersuchten Gesetze zumindest einen Sonderstatus unter den Geisteswissenschaften.

Nutzlos scheinen auch andersartige Disziplinen zu sein

Lassen wir für den Zweck dieses Artikels „Geisteswissenschaften“ einen Überbegriff für Literatur- und Kulturwissenschaften in einem jeweils weiten Sinne des Begriffes unter Ausschluss der Jurisprudenz sein! Außer der Beschäftigung mit dem menschlichen Geist und seinen Erzeugnissen eint diese Disziplinen ihre scheinbare Nutzlosigkeit: Ein historisches Fachbuch oder ein germanistischer Aufsatz macht außer seinen Autor und seinen Verlag niemanden satt, stößt in der Regel bestenfalls innerhalb des elitären, sehr kleinen Kreises der Eingeweihten auf Interesse und macht das Leben der großen Mehrheit der Bevölkerung scheinbar nicht besser. Wozu dann jedes Jahr Millionen dafür ausgeben? Die Frage ließe sich freilich auf andere Disziplinen ausdehnen: Warum werden jedes Jahr weltweit Milliarden Euro für die Weltraumforschung ausgegeben, obwohl wir auf der Erde schon genug Probleme, aber zu wenig Geld für deren Lösung haben? Weshalb finanzieren Staaten an Universitäten die Entwicklung und Verbesserung von Waffen, die keine Vorteile, sondern nur den Tod bringen?

Historische Gründe

Dass Geisteswissenschaften an unseren Universitäten gelehrt werden, hat historische Gründe. In der griechischen Antike wurde Literaturwissenschaft (Philologie) betrieben, weil sich mit ihr einerseits die eigene Sprache pflegen und vermitteln ließ, und andererseits schriftstellerische (nicht nur literarische) Werke einfach als Kulturgut angesehen wurden, die es zu bewahren galt und auf die man stolz war. Doch um sie zu bewahren, musste man sie auch verstehen, ebenso wie zu entscheiden war, welche Werke in Zeiten knapper und teurer Beschreibstoffe überhaupt würdig waren, der Nachwelt erhalten zu werden.

Im europäischen Mittelalter musste sich die Philologie (ebenso wie die Philosophie) gleichsam als Dienerin einer anderen Geisteswissenschaft unterordnen, der Theologie. Philologen hatten den Wortlaut der Heiligen Schrift zu klären, freilich stets unter dem Vorbehalt, dass ihre Übersetzungen dem Klerus genehm waren. Neben der Theologie kannte die mittelalterliche Universität nur zwei weitere Fakultäten, nämlich Jurisprudenz und Medizin – also keine Geisteswissenschaften im oben festgelegten Sinne.

Als in der frühen Neuzeit der dogmatische Einfluss der Kirche zurückging, bildeten sich allmählich die Naturwissenschaften als eigenständige Disziplinen heraus, die nun endlich auch Ergebnisse erbringen durften, die der kirchlichen Lehre widersprachen. Sie waren gefragt, ließen sich ihre Erkenntnisse doch in Erfindungen umsetzen und somit zu Geld machen.

Die große Zeit der Geisteswissenschaften begann im 19. Jahrhundert, als die Wirtschaft dank der Industrialisierung besonders stark zu wachsen begann und genügend Geld vorhanden war, um fremde Kulturen zu erforschen (und nicht selten, aber auch nicht immer, um ferne Länder zu kolonialisieren und ihre Bevölkerung auszubeuten). Schon damals waren übrigens einzelne Disziplinen von reichen Finanziers abhängig, man denke an den Kaufmann Heinrich Schliemann und seine dilettantischen Ausgrabungen im östlichen Mittelmeerraum. Bezeichnungen wie „Orientalistik“, die sich von der veralteten und unpräzisen Vorstellung eines „Orients“ herleitet, weisen noch in diese Zeit zurück. Doch aus eben dieser Tradition heraus gibt es Institute für Orientalistik noch immer, werden Orchideenfächer wie Albanologie und Tibetologie bis heute betrieben.

Sprachwissenschaften – Was kann ich studieren und wo kann ich arbeiten?

Vom Nutzen der Geisteswissenschaften

Eine hinfällige Tradition? Wer das bejaht, kann auf den historischen Wandel verweisen, dem die universitären Fächer im Laufe der Geschichte unterlagen und der immer wieder Disziplinen verschwinden und andere neu entstehen ließ. Immerhin lässt sich aber für jedes geisteswissenschaftliche Fach ein konkreter Nutzen angeben: Albanologie, Tibetologie u.s.w. vermehren unser Wissen um die Kultur der jeweiligen Völker; das Fach Geschichte lehrt uns, welche Ereignisse und Entwicklungen unsere Gesellschaft geprägt haben und bis heute mitbestimmen; Germanistik und Anglistik z.B. begründen die Genialität großer literarischer Werke und führen reflektierend vor Augen, was gute Literatur an sich ausmacht. Mit all dem ließe sich kaum Geld verdienen, wenn der Staat diese Fächer nicht finanzierte. Doch solange wenigstens einige Menschen gerne anspruchsvolle Belletristik aus allen Jahrhunderten lesen und ihre Freizeit sogar mit der Lektüre von Sachbüchern verbringen, solange Menschen geisteswissenschaftliche Vorträge besuchen und mit anderen ins Gespräch über all diese „unnützen“ Dinge kommen, erwarten sie auch zurecht, dass Profis diese Werke oder Vorträge verfasst bzw. vorbereitet haben. Eine Welt ohne Geisteswissenschaften wäre wie eine Welt ohne (Hoch-)Kultur, d.h. ohne anspruchsvolle literarische Werke, ohne bildende Kunst, ernste Musik oder Autorenfilme: Dieser Welt würde das spezifisch Menschliche fehlen, also alles, was uns von Tieren und Computern unterscheidet.

Geisteswissenschaften sind bedroht

Diese Erhabenheit der Geisteswissenschaften bei gleichzeitig fehlenden Zulassungsbeschränkungen zieht ohne jeden Zweifel NC-Flüchtlinge, Schwätzer und verwöhnte, unmotivierte Kinder aus reichem Elternhaus an, die manchmal keine Lust haben, ernsthaft zu arbeiten. Weil ihre Fächer nicht zu den sogenannten exakten Wissenschaften gehören, kann man in ihnen kaum einen gravierenden Fehler machen, sondern allenfalls seine Position schlecht begründen – sofern man überhaupt eigene Gedanken entwickelt und in schriftlichen Arbeiten nicht bloß die Forschungsergebnisse Anderer wiederkäut. Doch Faule und Leistungsschwache gibt es auch anderswo; sie sind kein Argument gegen Geisteswissenschaften, sondern allenfalls für die Begrenzung ihrer Studienplätze. Und nicht ihre Existenz ist ein Problem für Germanistik u.s.w., sondern die schrankenlose Ausbreitung des betriebswirtschaftlichen Nützlichkeitsdenkens: Es kennt nur die Input-Output-Relation (im Falle des Zugewinns an Information als „Impact“ bezeichnet) als Maß für den Nutzen einer Institution. Schon in den Naturwissenschaften wird es daher schwierig, Grundlagenforschung zu rechtfertigen, deren Ergebnisse ja nicht vorab feststehen können, aber vor der Bewilligung von Forschungsgeldern angegeben werden müssen. Das gilt sowieso für die Geisteswissenschaften, deren Output sich kaum messen lässt. In Japan, dem Vereinigten Königreich sowie den USA haben Verantwortliche in Politik und Hochschulleitungen daher bereits damit begonnen, diese Fächer auszudünnen oder gar abzuschaffen, wie jüngst Zeit-online berichtete. Der zunehmende Rückzug des Staates aus der Hochschulfinanzierung führt dazu, dass immer mehr Drittmittel akquiriert werden müssen – also Geld aus der freien Wirtschaft, die an Geisteswissenschaften verständlicherweise weniger Interesse hat als an praxisnäherer Forschung. Drohen diejenigen Geisteswissenschaften, die nicht oder bald nicht mehr an Schulen unterrichtet werden, früher oder später gänzlich auszusterben?