VON ANNABELLA MARTINZ | 02.09.2016 11:29

Noten sind ungerecht

Seit es mit der PISA-Studie im Jahre 2000 den Bildungsschock des anfangenden Jahrtausends gab, strengten sich Bildungspolitiker wie Lehrkräfte an, dem Verdummen der Gesellschaft entgegenzuwirken. Die Note „mangelhaft“ wurde sowieso schon fast ganz abgeschafft, zum Wohle der Lernenden und der Lehrkräfte, denn so eine schlechte Note zieht lange pädagogische Fäden mit sich.


„Chancengleichheit“ für alle hieß es, das Abitur solle für jeden zu schaffen sein. Ein Lob an die Bildungspolitik: Sie hatte es geschafft. Jetzt stehen wir allerdings vor dem entsprechend gegenüberliegenden Problem: Die Entwertung von guten Noten nimmt weiter zu.

Früher und heute

Früher war man noch der Meinung, dass das Abitur der Schlüssel zur Karriere sei. Die Grundausbildung sei gegeben, die Schulabgänger wären bereit, nun die Karriereleiter hochzuklettern. Dieses Denken ist schon lange passé, was zählt ist der Abschluss eines Studiums. Also hieß es für viele: Von der Schulbank auf die Studienbank und weiterlernen, immerhin haben wir in Deutschland zu wenige Akademiker. Nun sind im Wintersemester 2015/16 immerhin 2.755.408 eingeschriebene Studierende gezählt worden. Das ist mehr als ausreichend.

Doch wenn man die Sache genauer betrachtet, reicht auch das Studium allein nicht mehr aus, um sicher einen Job zu bekommen, denn Studium ist nicht gleich Studium: Die Bandbreite der Studierenden ist genauso vielfältig wie die Noten. Bei über zweieinhalb Millionen Studierenden muss man irgendwie hervorstechen. Und das funktioniert am besten über die Noten. Schlechte Noten soll es kaum mehr geben, denn die helfen einem ja nicht weiter. Nicht selten kommt es vor, dass Studierende in einer Prüfung das Geschriebene durchstreichen und das Blatt leer abgeben. So haben sie zumindest die Chance, der schlechten Note zu entgehen und die Prüfung im kommenden Semester mit einem besseren Ergebnis zu wiederholen.

Ein Abitur oder ein abgeschlossenes Hochschulstudium an sich sind heutzutage kaum mehr etwas wert: Promovierende müssen mindestens ein Magna cum Laude, also eine glatte Eins haben, um überhaupt auf ihre Leistung stolz sein zu können. Und wer einen schlechten Bachelor-Abschluss hat, kann von einem Platz im Masterstudiengang sowieso nur träumen.

Studierende der TU München sind die klügeren Köpfe

Dabei ist die Notengebung höchst ungerecht verteilt, denn ein und dieselbe Note heißt nicht überall dasselbe. Eine aktuelle Studie des Wissenschaftsrates fand heraus, dass im Diplomstudiengang Biologie 98% der bewerteten Prüfungen im Durchschnitt mit der Note „gut“ bis „sehr gut“ ausfielen, während Studierende im juristischen Staatsexamen nur 7% eine bessere Note als „befriedigend“ erhielten. Heißt das, dass Biologie-Studierende klüger sind als Jura-Studierende?

Doch auch innerhalb der Fachgebiete variiert die Notengebung immens: Je nach Standort mehr als einen ganzen Notenschritt: BWL-Studierende an der TU München schließen durchschnittlich mit einem Schnitt von 1,9 ab. Ihre entfernten Mitstudierenden desselben Studienganges an der TU Clausthal mit 2,8. Kommen die klugen Köpfe nach München, um BWL zu studieren, sind sie bestrebter, einen guten Abschluss zu erhalten oder liegt es vielmehr an der Ungerechtigkeit der Notenvergabe?

Unzufrieden mit dem Studienort?

Prüfungsnoten haben mehrere Funktionen. Sie dokumentieren und bewerten einen Leistungsstand, dienen als Vergleichswert und informieren Arbeitgeber und Hochschulen. Weil sich das Notensystem allerdings nicht auf gemeinsame Kriterien bezieht und nicht vereinheitlicht ist, kommt es zu Problemen. Dokumentiert wird zwar der Leistungsstand, nicht aber das Leistungsniveau. Und dieses variiert von Hochschule zu Hochschule immens. Im Klartext heißt das: Welche Noten am Schluss auf dem Zeugnis stehen, hängt vom Studienort ab.

Die Wurzeln der Ungerechtigkeit

In Deutschland haben alle Bundesländer ihre eigenen Hochschulgesetze. Diese geben den Aufbau eines Studiums und zum Beispiel die Anzahl der benötigten Prüfungen für einen Abschluss vor. Wie die Prüfungen aussehen, ob Multiple Choice oder Essayform, entscheidet dann die Hochschule selbst. Welche Schwerpunkte gelegt und welche Themengebiete abgearbeitet werden, liegt auch in der Hand der Universitäten. So legen die Politikwissenschaften an der LMU München ihren Schwerpunkt auf Governance-, die der Uni Marburg auf Friedensforschung. Falls zwei Studierende der jeweiligen Unis mit derselben Note abschließen, bedeutet das noch nicht, dass sie dasselbe Wissen haben. Politik zu studieren heißt also noch nicht Politik zu studieren.

Da trennt sich die Spreu vom Weizen – oder auch nicht

Es lässt sich feststellen, dass immer mehr Studierende gute Noten schreiben. Im Jahr 2000 waren es 70% der Abschließenden, die eine „gute“ bis „sehr gute“ Note bekamen. 2011 sind es bereits 80%. Doch wenn es immer mehr „sehr gute“ Studierende gibt, fallen diese gar nicht mehr auf. Das neue „sehr gut“ ist das alte „befriedigend“. Und diejenigen, die eine besonders fiese Lehrkraft erwischen, haben eben den Kürzeren gezogen.