VON CLEMENS POKORNY | 15.10.2015 14:28

Lernen: Für's Leben oder für die Schule?

Ist der Unterricht in Deutschland zu lebensfern? Diese Frage hat die Bildungspolitik in diesem Jahr intensiv beschäftigt. Manches an unseren Schulen wird zurecht kritisiert. Doch zum einen werden Lehrkräfte didaktisch mittlerweile ganz anders ausgebildet als diejenigen, die einst die heutigen Kritiker der Lehrpläne unterrichtet haben. Und zum anderen gehört vieles von dem, was nach Meinung mancher in der Schule gelernt werden sollte, einfach nicht dorthin.

„Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir!“ Schon im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung hat der römische Philosoph Seneca mit diesen Worten die Lebensferne des Schulunterrichts beklagt. Anfang dieses Jahres stand ein auf den ersten Blick ähnliches Zitat im Zentrum des medialen Interesses. Die Schülerin Naina twitterte: „Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann 'ne Gedichtsanalyse [sic] schreiben. In 4 Sprachen“. Bei UNI.DE wurde bereits diskutiert, inwiefern diese Klage berechtigt ist, mit der Tendenz, dass die Details des Steuer- und Versicherungswesens sowie des Mietrechts nicht in die allgemein bildende, sondern in die Schule des Lebens und ins Elternhaus gehören. Die Politik freilich hat Nainas nicht gerade neue Vorwürfe positiv aufgegriffen. Baden-Württemberg hat sogar eine konkrete Maßnahme ergriffen: Ab kommendem Schuljahr wird es ein neues Pflichtfach „Wirtschaft und Beruf“ geben. Neu daran ist die Konsequenz und der Umfang, mit denen Themen wie unser Wirtschaftssystem, das Finanzwesen und die Berufswelt im Unterricht behandelt werden.

Lehramt – Beruf mit Zukunft?

Wie die Inhalte dieses Faches aussehen und wie sie dann an den einzelnen Schulen umgesetzt werden werden, bleibt abzuwarten. Der Unterricht in „Wirtschafts- und Rechtslehre“, den der Autor in Bayern genießen durfte, war allerdings völlig lebensfern. Das liegt jedoch an einem grundsätzlichen Problem, das in vielen Fächern zu konstatieren ist und an den Lehrkräften hängt. Viele Lehrer zeigen bei der Vermittlung des Stoffes kaum Kreativität und Phantasie. Sie lassen vor allem allzu oft jeden Praxisbezug der behandelten Themen vermissen. Unter meinen Mathematik- und Physiklehrern gab es keinen einzigen, der einmal ein anschauliches Beispiel für die Ausnutzung physikalischer Gesetze oder mathematischer Funktionen ins Klassenzimmer mitgebracht hätte. Der Chemie- und Biologieunterricht ging nie über das Klassenzimmer hinaus, obwohl man in der Natur, in der Kläranlage oder in einem Betrieb der chemischen Industrie die Inhalte des Curriculums hautnah hätte nachvollziehen können.

Das mag einerseits daran liegen, dass sich manche Lehrkraft zu Unrecht darauf verlässt, dass der nötige Praxisbezug von den Schülern automatisch hergestellt wird, z.B. weil sie den gelernten Stoff außerhalb der Schule brauchen und anwenden könnten. Vor allem aber sind, andererseits, vor 2002 ausgebildete Pädagogen oftmals nicht für schülerzentrierten Unterricht sensibilisiert. Erst nach dem PISA-Schock leitete die Bildungspolitik ja eine Umkehr von der Stoff- zur Kompetenzorientierung ein. Das bedeutet, dass die Lehrpläne den Lehrkräften und Schülern keinen Kanon von auswendig zu lernendem Wissen mehr vorgeben, sondern festlegen, zum Erwerb welcher Fähigkeiten und Haltungen (= Kompetenzen) bezüglich der Inhalte eines Faches die Lernenden angeleitet werden und über welche Kompetenzen sie am Ende eines Jahres (oder Zweijahreszeitraums) verfügen sollen. Angewandtes Wissen bekommt somit den Vorzug gegenüber totem, das nur für die nächste Leistungserhebung eingepaukt und danach wieder vergessen wird.

Inwieweit dieses Ideal aber auch umgesetzt wird, steht auf einem anderen Blatt. Dabei bietet die Lebenswelt der Schüler jede Menge Ansatzpunkte für alle Fächer. Zum Beispiel aktuelle Nachrichten wie diejenige, dass bei der Wallfahrt in Mekka über 700 Menschen bei einer Massenpanik getötet wurden. Im Ethik- und Religionsunterricht könnte die Nachricht als Aufhänger zur Beschäftigung mit den Traditionen des Islam dienen. Im fremdsprachlichen Unterricht könnte die Nachricht in der jeweiligen Fremdsprache gelesen werden, was den Vorteil hätte, dass die Schüler inhaltlich bereits „vorentlastet“ wären, d.h. den Inhalt des Textes bereits kennen würden und diesen somit leichter übersetzen könnten. Kurzum: Bezüge zu dem, was Schüler gerade bewegt, lassen sich wohl fast immer und in jedem Fach herstellen – es braucht dazu nur engagierte Lehrkräfte.

Die Lebenswirklichkeit findet auch deshalb immer mehr Einzug in die Schule, weil sie daheim immer weniger stattfindet. In einer immer prekäreren Arbeitswelt nimmt die Zahl der zu wenig betreuten und damit unzureichend erzogenen Kinder und Jugendlichen natürlich zu. Andererseits greift auch ein Wohlstandsphänomen um sich: Eltern, denen es in der Kindheit und Jugend finanziell nicht so gut ging, tendieren dazu, dies nach heiratsbedingtem sozialem Aufstieg an ihren Kindern zu kompensieren, sprich: diese zu verwöhnen. Egoismus und Arroganz sind die Folgen, unter denen die Eltern dann zu leiden haben und die die Schule in den Griff bekommen soll, wenn es längst zu spät ist.

Denn Erziehung findet in erster Linie in der Familie und nicht in der Schule statt, schon alleine deshalb, weil kein Kind in den besonders prägenden ersten sechs Lebensjahren eine Bildungseinrichtung von innen sieht. Die Eltern können also nicht ihre ureigensten Aufgaben auf den Lehrkörper abwälzen. Und lebenspraktische Kompetenzen, die die Schülerin Naina an sich vermisst, haben sich auch alle Generationen vor ihr durch Vermittlung im Elternhaus oder alleine angeeignet.