VON CLEMENS POKORNY | 17.02.2015 15:58

Bildung: Schönheit oder Nützlichkeit?

Ob die Schule eher schöne oder eher nützliche Inhalte vermitteln soll, ist eine alte Streitfrage. Gegenwärtig tendieren Politik und Gesellschaft, meist unausgesprochen, zu letzterem. Der Tweet einer Schülerin, die sich über die Praxisferne ihres gymnasialen Unterrichts beschwerte, hat unter anderem in der ZEIT zu einer Diskussion zwischen zwei Bildungsexperten geführt. Auch UNI.DE schaltet sich ein.


In einer pluralistischen Gesellschaft erzeugt jede gesellschaftliche Tendenz früher oder später eine Gegenbewegung. Auf die zunehmende Landflucht etwa reagieren derzeit immer mehr junge Berufstätige mit der Entdeckung ihrer Liebe zur Natur; wer nicht gleich ganz aufs Land zieht, wählt sich doch Hobbys, die ihn aus der Stadt zu Seen, Wäldern und Bergen führen. Waren Lehrstühle an den Universitäten früher fast ausschließlich Männern vorbehalten, ist heute dank offizieller oder inoffizieller Quotenregelungen das Gegenteil der Fall. Und auch in der Bildung findet eine Umkehr statt: Galt es an Gymnasien früher, einen klassischen Bildungskanon vorrangig durch stumpfes Auswendiglernen zu verinnerlichen, um Zugang zu Hochschulen, „besseren Kreisen“ und lukrativen Arbeitsplätzen zu bekommen, tendieren Schule und Uni heute mehr dazu, praktisch anwendbares Wissen für eine immer größere Masse angeblich hochschulreifer junger Menschen zu vermitteln – auf Kosten dessen, was gemeinhin als Allgemeinbildung geschätzt wird. Beide Seiten erscheinen verständlich. Wie in allen diesen scheinbar dichotomen Fällen mag man in einem ersten Impuls dazu neigen, die Vereinbarkeit beider entgegengesetzter Pole anzunehmen. So einfach ist das natürlich nicht.

Aber fangen wir beim Ausgangspunkt der aktuellen Bildungsdebatte an. Eine Schülerin aus Nordrhein-Westfalen, die sich im Internet Naina K. nennt, hatte im Januar getwittert: „Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann 'ne Gedichtsanalyse [sic] schreiben. In 4 Sprachen.“ Als Reaktion auf die bundesweite Diskussion, die dieser Tweet auslöste, brach der Journalist Ulrich Greiner in der ZEIT eine Lanze für die schönen, „nutzlosen“ Fächer wie alte Sprachen oder Musik, während der Wissenschaftler Yasha Mounk darauf hinwies, dass beide Seiten, die der Nützlichkeits-, wie die der Schönheitsbefürwortenden, ein zentrales Problem ignorierten: Dass Schule nämlich allzu sehr zu kritiklosem Gehorsam erziehe statt neugieriges, selbstständiges Denken zu fördern.

Lehramt – Beruf mit Zukunft?

Auch dort, wo einer der beiden Autoren zu überzeugen scheint, findet sich öfters im Vergleich mit der Position des anderen ein Schwachpunkt. Greiner beharrt darauf, dass Menschen nur im Zwangssystem Schule an die schönen Künste (alte Sprachen, Musik, Kunst) herangeführt werden können, weil sie sich später freiwillig wohl nicht mehr damit beschäftigen würden. Zwischen den Zeilen kritisiert Mounk dieses autoritäre Erziehungsverständnis. Was aber die Kinder und Jugendlichen in der Schule nun lernen sollen, will er nicht festlegen – Hauptsache, es ist „nützlich“. Doch was ist unmittelbar nützlich? Analytisches und kritisches Denken, das er zurecht fordert, sicherlich nicht! Wer nun Lernende selbst darüber (mit-)entscheiden lassen will, was sie lernen sollen, verkennt, dass Heranwachsende dies in aller Regel noch nicht abschätzen können. Gerade Naina bestätigt das, wenn sie der Schule allen Ernstes zumutet, diese solle auf konkrete Lebenssituationen vorbereiten, was doch Aufgabe elterlicher Erziehung wäre – oder was jeder Mensch für sich selbst herausfinden muss, und zwar immer wieder aufs Neue, weil sich unsere Lebenswelt rasant wandelt.

Die ZEIT-Diskussion reflektiert ein Bildungssystem im Wandel. Dazu gehören recht disparate Entwicklungen, aber eine Tendenz lässt sich nicht leugnen: Immer mehr junge Menschen nehmen immer früher ein Studium auf. Dazu tragen viele Faktoren bei. Die Unfähigkeit von Real- und Haupt-/Mittelschulen, auch Migrantenkinder zu brauchbaren Abschlüssen zu führen, sowie die zunehmende Komplexität in vielen Ausbildungsberufen, bei denen mittlerweile das Abitur für die Bewerbung schon verpflichtend ist, hat die Attraktivität des Gymnasiums so sehr gesteigert, dass Eltern sich immer mehr dazu getrieben sehen, ihre Kinder zum Abitur zu führen – koste es, was es wolle (Aktuell sind der Kinofilm „Frau Müller muss weg“ über eine Grundschullehrerin, die sich diesem Trend verweigert, sowie der Boom der Privatgymnasien für Kinder aus betuchtem Elternhaus, die Schwierigkeiten an staatlichen Schulen haben, Ausdrücke dieser Entwicklung). Darunter leidet zunehmend die Qualität des Abiturs, dessen Anforderungen immer mehr sinken. Angesichts neuer Rekord-Studienanfängerzahlen fragt man sich, ob der Bachelor mittelfristig denjenigen Platz in der Berufswelt einnehmen wird, den einst der Realschulabschluss hatte. In einer solchen Welt ist die Tendenz zu Praxisnähe und unmittelbarer Verwertbarkeit der „Bildungsinhalte“ nachvollziehbar.

Diese hießen übrigens früher „Stoff“, und dieser Begriff führt zu einem Bildungsverständnis, das bis zu einem gewissen Grad doch eine Verbindung der Positionen von Greiner und Mounk implizieren könnte. Die staatlichen Lehrpläne geben nur einen Stoff vor; wie dieser bearbeitet wird, liegt in der Verantwortung der Lehrkräfte. Mounk hat sicherlich recht, wenn er konstatiert, Latein und Altgriechisch seien zumeist eher unbeliebte Drill- und Paukfächer. Doch das liegt an den Lehrenden. Sie könnten – nicht nur in diesen Fächern – dazu anhalten, statt auswendig lernen zu lassen, sich auf eigenverantwortliche Entdeckungsreise z.B. zu den alten Römern und Griechen zu begeben. Nur intrinsische Motivation garantiert langfristigen Lernerfolg. Vokabeln muss jeder in allen sprachlichen Fächern pauken; wenn dabei aber auch die Welten gesehen werden, zu denen sich damit Zugang verschafft wird, ist das für jede beliebige Sprache eine hinreichende Motivation. Dann spielt es auch keine Rolle mehr, dass Lernende eigentlich dazu gezwungen sind, das betreffende Fach zu belegen. Welcher Fächer aber auf dem Curriculum stehen, wird stark von Tradition bestimmt. Man muss nicht konservativ sein, um abendländische Traditionen wie klassische Musik, europäische Kunst, Literatur der Weimarer Klassik oder die Auseinandersetzung mit dem antiken Erbe lebendig halten zu wollen. Und man muss auch kein Technikfeind sein, um darauf hinzuweisen, dass heute alle Schülerinnen und Schüler den Umgang mit dem Computer daheim oder bei Freunden lernen und es genügend Nerds gibt, die schon zu Schulzeiten ihre Freizeit mit Programmieren verbringen: Für den Nachwuchs dürfte also gesorgt sein und Informatik muss nicht acht oder neun Jahre an öffentlichen Sekundarschulen unterrichtet werden.

Nicht die Fächer müssen sich also ändern, sondern ihre Vermittlung. Wenn eine Schülerin wie Naina sich dann aus einem tieferen Verständnis heraus für Gedichte begeistern kann, das sich in gelungenen, individuell argumentierenden Gedichtinterpretationen niederschlägt, gelänge Bildung. Findet sie trotz fähiger Lehrkräfte und guten Unterrichts keinen emotionalen und intellektuellen Zugang zu den schönen Künsten – ist sie vielleicht auf der falschen Schule. Das Gymnasium sollte ursprünglich auf die Gelehrtenlaufbahn vorbereiten, die dann in Berufe wie Pfarrer, Lehrer, Arzt, Jurist oder Wissenschaftler mündete. Diese Rolle hat es freilich längst verloren, und unserer Gesellschaft wäre statt Gymnasien, Real- und Hauptschulen wohl eine Gesamtschule mit Binnendifferenzierung angemessener. In einer Schule für alle könnten die gleichen Fächer wie heute unterrichtet werden, aber nach Leistungsstärke differenziert wie in den USA. Lernende könnten – in einem gewissen Rahmen – diejenigen Fächer wählen und miteinander kombinieren, die sie interessieren, und dennoch bekämen alle ein Mindestniveau an Allgemeinbildung.