VON CLEMENS POKORNY | 26.05.2014 19:50

TTIP: Der Staat zieht sich aus der Verantwortung

Das geplante Freihandelsabkommen zwischen EU und USA (Transatlantic Trade and Investment Partnership, kurz TTIP) stößt auf immer mehr Widerstand. Die hohen europäischen Standards im Umwelt- und Verbraucherschutz drohen aufgeweicht zu werden – und die durchgesickerten Planungen zum Investitionsschutz würden es Unternehmen erlauben, Profite von einzelnen Staaten einzuklagen, wenn sie sich durch rechtliche Hürden im Wettbewerb benachteiligt sehen. Ist das der Ausstieg des Staates aus der Verantwortung für seine Bürger?


Beim geplanten Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA (TTIP) stehen Standards insbesondere im Umwelt-, Gesundheits- und Arbeitsrecht auf dem Spiel (UNI.DE berichtete). Die Befürworter des Abkommens mögen das noch so oft leugnen – die Erfahrung zeigt, dass sich divergierende Vorschriften mittelfristig auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einpendeln. Das bedeutet z.B., dass geschlachtete Hühnchen, die in den USA bereits zur Desinfektion gechlort werden, auch in Europa zur Regel werden könnten. Ebenso wäre TTIP ein Einfallstor für gentechnisch veränderte Organismen, die in den USA bedenkenlos angebaut und verzehrt werden, und vor allem auch für die damit einhergehenden aggressiven, z.T. krebserregenden Pestizide. Gentechnikfreiheit sieht die Grünenpolitikerin Bärbel Höhn „an erster Stelle der Handelshemmnisse“ zwischen EU und USA.

Konsumverzicht und Produktionsrückgang

Zwei Umstände lassen die Befürchtungen der TTIP-Gegner als sehr gerechtfertigt erscheinen. Denn schon während des Verhandlungsprozesses, vor allem aber nach der drohenden Ratifizierung von TTIP, geben die beteiligten Staaten in erheblichem Maße Verantwortung ab. Erstens finden die Verhandlungsrunden im Geheimen statt. Von europäischer Seite nimmt nur die Europäische Kommission teil, nicht einmal EU-Parlamentarier werden über die Details informiert. Warum aber macht die EU erklärtermaßen Politik „für“ statt mit den Menschen? Fürchtet man die Ablehnung durch die europäische Bevolkerung? Zumindest würde deren Mitsprache die Sache sicher komplizierter machen, wie schon bei den Abstimmungen zum umstrittenen Vertrag von Lissabon, beispielsweise in Irland.

Vor allem aber – zweitens – kämen mit TTIP umfangreiche Maßnahmen zum sogenannten Investitionsschutz. Das bedeutet: Wenn sich in einem Land die rechtlichen Rahmenbedingungen zu Lasten eines Investors verändern, kann dieser den Staat auf Schadenersatz verklagen. Innerhalb Europas geht das sogar schon heute: Der Energieversorger Vattenfall etwa verklagt die Bundesrepublik auf Schadenersatz in Milliardenhöhe, weil ihm durch die Energiewende sicher geglaubte Profite aus seinen Atomkraftwerken verloren gehen. Damit wird ein Grundprinzip der Marktwirtschaft, nämlich das des unternehmerischen Risikos, über Bord geworfen und Verluste nach bewährtem neoliberalen Muster sozialisiert. Will heißen: Der Steuerzahler soll die Verantwortung für Verluste von Unternehmen übernehmen und dafür bezahlen. Das Schlimmste bei solchen Verfahren: Sie finden vor Schiedsgerichten statt, die im Geheimen tagen und deren Richter von den Beteiligten (beklagter Staat und klagendes Unternehmen) ausgewählt werden. Bisher gingen diese Schiedsverfahren meistens zugunsten der Unternehmen aus. Eine Verfahrensverordnung für den Investitionsschutz hat das EU-Parlament gegen den Widerstand von Grünen und Linken bereits kurz vor Ostern 2014 beschlossen – unter anderem mit den Stimmen der Europaabgeordneten der SPD, die den Wählern daheim gerne ihre Ablehnung der Investitionsschutzregeln versichert. Mit TTIP könnte sich die Zahl solcher Verfahren vervielfachen.

Aus dem Ärger um den Vertrag von Lissabon hat die EU-Kommission gelernt: Handelskommissar Karel de Gucht will vorab verhindern, dass einzelne nationale Parlamente TTIP zu Fall bringen können. Kein Wunder, dass in Europa die Skepsis immer mehr zunimmt, wenn Nationalstaaten in steigendem Maße politische Verantwortung an Brüssel delegieren – anti-europäische Populisten sind ja allenthalben im Aufwind.

Doch während die meisten Deutschen Chlorhühnchen, Klonfleisch, Gendfood oder Fracking ablehnen, haben sie mit einem Freihandelsabkommen zwischen EU und USA mehrheitlich kein Problem – wohl aus Unkenntnis über die damit verbundenen Gefahren und in Überschätzung der wirtschaftlichen Vorteile. Noch ist es aber nicht zu spät, sich dagegen zu wehren. Der erfolgreiche Kampf gegen ACTA macht Mut. Und über die konkreten Inhalte von TTIP hinaus sollte vermehrt über den weltweiten Paradigmenwechsel nachgedacht werden, zu dessen geistigen Kindern auch TTIP gehört: Gesetze, die die Wertvorstellungen einer Gesellschaft widerspiegeln, werden im Zweifelsfall als wirtschaftsfeindliche „Regulierung“ abgewertet und bekämpft. Mit Absegnung durch das Bundesverfassungsgericht muss Deutschland bis zur Zahlungsunfähigkeit für Maßnahmen des Euro-Rettungsschirms haften und damit privatwirtschaftliche Gläubiger der Pleitestaaten bedienen. Verantwortung von Unternehmen wird ideologisch zur unverbindlichen Compliance degradiert. Immer mehr Verantwortung gibt der Staat an die Privatwirtschaft ab, nach dem Grundsatz, dass der Markt alles am besten regele: Mit Public Private Partnerships, Outsourcing etc. entzieht sich der Staat der Verantwortung für die beteiligten Arbeitskräfte und sorgt dafür, dass diese schlechter entlohnt werden. Wollen wir das alles?