VON CLEMENS POKORNY | 04.11.2013 14:16

Flächendeckender Mindestlohn: Fluch oder Segen?

Wenn in Berlin die Große Koalition Wirklichkeit wird, könnte auch ein gesetzlicher Mindestlohn kommen. Eine breite Mehrheit würde dies laut repräsentativen Meinungsumfragen begrüßen. Doch die Ökonomen streiten über den Sinn einer gesetzlich verordneten Lohnuntergrenze und über die Folgen, die sie für Deutschland hätte. UNI.DE fasst die wichtigsten Fakten und Argumente zum Thema zusammen.

Viele hochentwickelte Länder der Welt haben einen gesetzlichen Mindestlohn, 21 von 28 EU-Staaten zählen dazu. In Australien, Frankreich, Irland, Neuseeland oder den Niederlanden beträgt er über 8,50 Euro pro Stunde – eben jener Betrag, den die SPD in den Koalitionsverhandlungen als gesetzlich festgelegte Lohnuntergrenze pro Stunde fordert. Warum hat Deutschland nicht schon längst einen einheitlichen Mindestlohn, sondern nur branchenspezifische?

Viel Arbeit für wenig Geld

Traditionell wird in Deutschland viel Wert auf die Tarifautonomie gelegt. Damit ist das Recht der sogenannten „Koalitionen“ aus Arbeitnehmern und Arbeitgebern gemeint, Verträge über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, insbesondere Tarifverträge über die Entlohnung abzuschließen. Die Tarifbindung, also der Grad der Bindung an einen Tarifvertrag, ist in Deutschland allerdings deutlich niedriger als in anderen europäischen Ländern ohne Mindestlohn. Das bedeutet: In der Bundesrepublik haben die Arbeitgeber deutlich mehr Spielräume, sittenwidrige Löhne zu zahlen, als anderswo. Insbesondere in Dienstleistungsberufen, z.B. im Hotel- und Gaststättengewerbe, wird von dieser Möglichkeit kräftig Gebrauch gemacht. Deutschland hat auch deshalb den zweitgrößten, nach anderen Zahlen gar größten Niedriglohnsektor ganz Europas.

Viele Kritiker prophezeien aber, dass viele gering Qualifizierte durch die Einführung einer einheitlichen Lohnuntergrenze ihre Arbeit verlieren könnten, weil sie unrentabel werden könnten. Diese Befürchtung kann dahingehend relativiert werden, dass zumindest keine Wettbewerbsnachteile entstünden: Einerseits gälte der Mindestlohn ja für alle Betriebe einer Branche, andererseits ließen sich Jobs aus dem vorrangig betroffenen Dienstleistungssektor naturgemäß kaum ins billigere Ausland verlagern. Allerdings würden sich viele Dienstleistungen durch einen flächendeckenden Mindestlohn verteuern – möglicherweise zu Lasten der Nachfrage, wenn man jedoch davon absieht, dass höhere Löhne in einzelnen Branchen die Kaufkraft der darin Beschäftigten natürlich erhöhen würde. Auch die Höhe der Lohnuntergrenze in Relation zum durchschnittlichen Lohnniveau könnte mit ca. 57% als Beschäftigungsbremse wirken, warnen Experten. Allerdings herrscht in Deutschland bereits nahezu Vollbeschäftigung (abgesehen von einer kaum zu reduzierenden Sockelarbeitslosigkeit), und angesichts des demographischen Wandels könnte Arbeitslosigkeit langfristig ohnehin eine geringe gesellschaftlich-ökonomische Rolle spielen. Und schließlich reichen die Prognosen der Wirtschaftswissenschaftler für den Fall, dass die Lohnuntergrenze wie von der SPD gefordert kommt, von einer signifikanten Erhöhung der Arbeitslosigkeit bis hin zum Szenario einer leichten Erhöhung der Beschäftigungszahlen.

Die wirtschaftlichen Folgen der Einführung eines Mindestlohnes wären, wie man sieht, so komplex, dass nicht einmal Experten sich in ihrer Vorhersage einig sind. Unumstritten ist aber, dass diejenigen, die vorher weniger als 8,50 Euro brutto pro Stunde verdienten (derzeit 20% der Angestellten in Deutschland), mit einer einheitlichen Lohnuntergrenze finanziell deutlich besser gestellt wären und nicht mehr mit der Alternative Arbeitslosigkeit gezwungen werden könnten, Hungerlöhne hinzunehmen. Zudem wäre die gute Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt durch wettbewerbsverzerrende Dumpinglöhne nicht mehr mit Arbeitslosigkeit in den Nachbarländern erkauft, wie es z.B. in der französischen fleischverarbeitenden Industrie derzeit der Fall ist. Und ein flächendeckender einheitlicher Mindestlohn würde endlich das Tarifgefälle zwischen Ost und West in Deutschland beenden, das ebenso wie die unterschiedlichen Rentenniveaus nicht mehr zu rechtfertigen ist.