VON LISI WASMER | 24.01.2013 14:08

Massenvergewaltigung: Systematik der Unmenschlichkeit

Es gibt Themen, mit denen wir uns nur schwer auseinandersetzen können. Weil wir entsetzt sind, weil sie uns erschüttern. Weil wir uns für sie schämen. Der Holocaust ist so ein Thema. Massenvergewaltigung ist so ein Thema. Aber nur weil es schwerfällt, darf man nicht wegsehen.

Die Welt war schockiert, als im Dezember der Fall einer jungen Inderin bekannt wurde, die von sechs Männern in einem Bus in Neu-Delhi vergewaltigt wurde. Die besondere Grausamkeit und Feigheit der Tat ist es, was die Menschen erschüttert. Umso schwerer fällt es uns, zu begreifen, was derzeit in Syrien passiert: Hunderttausende Menschen fliehen aus dem Land, weil sie systematische Massenvergewaltigungen fürchten.

Systematik der Unmenschlichkeit

Töten mit System

Wie viel ist eine Frau wert?

Kriege sind oft der Nährboden für die dunkelsten aller Kapitel unserer Geschichte. Wann sonst bieten sich so viele Gelegenheiten, sich von seiner schlechtesten Seite zu zeigen? Hierzu gehört auch die systematische Nutzung von Vergewaltigungen als Kriegsmittel. „[…] In jedem Konflikt erleiden Frauen und Mädchen physische und sexuelle Gewalt. Syrien ist keine Ausnahme. [eigene Übersetzung]“, heißt es in einem Bericht des International Rescue Committees (IRC).

Von Entführungen ist hier die Rede, von Folter und nicht zuletzt von Gruppenvergewaltigungen wie im Fall der jungen Inderin. Der Unterschied besteht in der Systematik. Es handelt sich nicht um eine Straftat, die von Zivilisten begangen wird. Es geht darum, dass sexuelle Gewalt als Kriegsmittel eingesetzt wird.

Keine Erfindung moderner Kriegsführung

Während die moderne Kriegsführung viele grausame Blüten treibt, sind Massenvergewaltigungen dennoch keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Das wohl bekannteste Beispiel systematischer sexueller Gewalt sind die Vergewaltigungslager, sogenannte Rape Camps, wie sie im Bosnienkrieg 1992-1995 eingesetzt wurden. Vor allem muslimische Frauen wurden Opfer sexueller Gewalt, insgesamt beläuft sich die Zahl der Vergewaltigungsopfer auf geschätzt 60.000, so Michele Lent Hirsch für „The Women’s Media Center“. Auch Männer wurden vergewaltigt oder gezwungen, anderen sexuelle Gewalt anzutun, nicht selten handelte es sich dabei um Familienmitglieder. Vielen wurden die Genitalien abgetrennt.

Das sind Fakten, mit denen wir nur schwer zurechtkommen. Es ist unangenehm, weil es uns zeigt, wer wir sind. Wir sind Teil einer Welt, in der Menschen anderen Menschen Unmenschliches antun. In der Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden. Kaltblütig und vor allem systematisch. Was bleibt, ist die Frage nach dem Warum.

Die Frage nach dem Warum

Es liegt in unserer Natur, nach Gründen zu suchen, nach Sinnhaftigkeit. Es fällt schwer, in Gruppenvergewaltigungen und Rape Camps ausreichende Gründe zu finden, geschweige denn einen Sinn. Im Fall der jungen Inderin spekuliert die Zeitung „Die Welt“, der hohe Männerüberschuss im Land könne für derartige Übergriffe verantwortlich sein. Eine unbefriedigende Antwort vor dem Hintergrund der Unmenschlichkeit.

Mit Blick auf Bosnien-Herzegowina und Syrien ist die Antwort wohl ebenso ernüchternd wie grausam: Es funktioniert. Massenvergewaltigungen sind ein wirksamer Weg, Menschen zu unterdrücken, zu erniedrigen, ihnen Informationen zu entlocken und nicht zuletzt ihren Willen zu brechen. Die Erkenntnis fällt schwer. Und doch müssen wir uns mit ihr auseinandersetzen, weil es die Realität ist. Und wer die Realität nicht kennt, der kann sie auch nicht ändern.