VON CLEMENS POKORNY | 04.12.2013 14:54

Pressefreiheit in der Türkei?

Ob Freiheitsrechte garantiert sein müssen, damit die EU weiter auf die Türkei zugeht, oder umgekehrt eine verbesserte Perspektive auf einen baldigen EU-Beitritt als Mittel zu demokratischen Fortschritten dienen kann, bleibt umstritten. Ohne Zweifel jedoch hat die Pressefreiheit am Bosporus unter der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan in den letzten Jahren massiv abgenommen. UNI.DE wirft ein Schlaglicht auf die Problematik.


Am 5. November 2013 wurde die Journalistin Füsun Erdoğan sowie fünf weitere Reporter nach siebenjähriger Untersuchungshaft von einem türkischen Gericht zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Ihnen wird die Bildung einer terroristischen Vereinigung mit Erdoğan an der Spitze zur Last gelegt. Hauptsächliches „Beweisstück“ war ein Computerausdruck, auf dem über illegale Geheimtreffen berichtet wird – die Urheberschaft ist völlig unklar, und die Angeklagten bestritten alle Vorwürfe. Erdoğans Schicksal ist kein Einzelfall: Rund 6.000 Beschuldigte sitzen derzeit in der Türkei in Untersuchungshaft, weil sie wegen „Terrordelikten“ angeklagt werden. Über zwei Drittel davon sind Kurden, die verhaftet wurden, weil sie angeblich einen zivilen Arm der PKK-Guerilla aufgebaut haben. Und Dutzende der Inhaftierten arbeiteten als Journalisten. Bleibt die Pressefreiheit in der Türkei da noch gewahrt?

Menschenrechte in Europa

Dabei dienen die oft unverhältnismäßig lange Untersuchungshaft und die unangemessen harten Urteile nicht nur der AKP-Regierung dazu, sich Kritiker und missliebiger Kräfte zu entledigen. In der Türkei, in der lange Zeit das Militär inoffiziell das Sagen hatte, gibt es seit längerem einen neuen Staat im Staate: Die islamische Gülen-Bewegung, der viele Beamte der Exekutive angehören. Sie hatte die AKP unterstützt, solange diese mit ihren Zielen übereinstimmte, und weite Teile von Polizei und Justiz unterwandert. Als sich die Untergrundbewegung aber gegen hochrangige Regierungsmitarbeiter zu wenden begann, kam es zur Konfrontation. 2012 wurde die Sondergerichtsbarkeit reformiert, die erst zu derart ungerechten Urteilen wie dem obigen gegen die Pressefreiheit führen konnte. Doch de facto existiert sie nach wie vor und erlaubt Vertretern der Gülen-Bewegung somit weiterhin, mit falschen Beweisen und Verleumdungen gegen ihre Gegner vorzugehen.

Die Medien trifft es dabei am härtesten. Wer nicht Selbstzensur leistet, muss um seinen Arbeitsplatz fürchten. Allein im August 2013 wurden etwa 60 kritische Mitarbeiter entlassen. Je mehr die AKP-Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan die Grenze zwischen Staat und Partei verwischt, desto mehr passen sich die großen Zeitungen und Sender ihr an und desto mehr nimmt die Pressefreiheit ab.

Zensiert wird in der Türkei zudem ganz offiziell: Art. 301 des türkischen Strafgesetzbuchs, der bis 2008 die „Herabsetzung des Türkentums“ unter Strafe stellte, diente angesichts der Schwammigkeit der Formulierung als probates Mittel, um Satiriker oder Regierungskritiker einzuschüchtern – etwa den türkischen Literaturnobelpreisträger von 2006, Orhan Pamuk, der daher seit 2007 im US-amerikanischen Exil lebt. 2008 wurde der Artikel abgemildert, doch auch die nun verbotene „Herabsetzung der türkischen Nation“ lässt noch genug Spielraum, um die Meinungs- und Pressefreiheit einzuschränken. Pamuks Landsmann und Pianist Fazil Say wiederum wurde wegen „Verunglimpfung religiöser Werte“ (§ 216 StGB) verurteilt, nachdem er den Klerus verspottet und mittelalterliche korankritische Verse zitiert hatte.

Zum Absturz der Pressefreiheit in der Türkei mag auch beigetragen haben, dass die EU im Zuge der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei deren Fortschritte bei den Menschenrechten nach Meinung mancher Beobachter nicht ausreichend gewürdigt und so keinen Anreiz geschaffen hat. Auf der Liste der Nationen nach dem Grad ihrer Pressefreiheit, die von der NRO „Reporter ohne Grenzen“ herausgegeben wird, rangiert die Türkei derzeit auf dem 154. Platz (von insgesamt 179) – noch hinter Russland. Begründung: Intransparente und unfaire Prozesse v.a. gegen Kurden und Journalisten, häufig unter dem pauschalen Vorwurf des Terrors. Auch mehrfache Verurteilungen der Türkei durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte brachten keine nennenswerten Verbesserungen. Und auch wer die Einschränkung der Pressefreiheit in dem Land unter Ministerpräsident Erdoğan kritisiert, wird als „Terrorist“ denunziert. Die Journalistin Füsun Erdoğan erklärte dagegen, ihre Festnahme solle unabhängige, demokratische und alternative Medien in der Türkei einschüchtern. Ihr Prozess zeigt, dass gerade in Hinsicht auf die Pressefreiheit „Recht haben“ und „Recht bekommen“ auch in der Türkei verschiedene Dinge sind.