VON LISI WASMER | 23.06.2014 17:23

Neue Wege aus der Europakrise? Rot-rot-grüne „Denkanstöße“

Das Erstarken der rechten und europakritischen Parteien bei den Wahlen zum Europaparlament Ende Mai diesen Jahres wird in vielerlei Weise interpretiert: Unglückliche Folge der schlechten Wahlbeteiligung, sagen die einen; Manifestation der politischen Dimension der Eurokrise, konstatieren jetzt drei Abgeordnete von SPD, Grünen und Linken. In der 16. Ausgabe der Schriftenreihe „Denkanstöße“ des Instituts „Solidarische Moderne“ mahnt das rot-rot-grüne Bündnis vor einem überstürzten Aufatmen in der Schuldenkrise, gehen mit Merkels Europapolitik hart ins Gericht und empfehlen eine Stärkung des Europäischen Parlaments.


Es ist noch keinen Monat her, da haben die Bürger Europas über die Besetzung ihres Parlaments abgestimmt. Das Ergebnis wird gerne mit dem Begriff eines politischen „Rechtsrucks“ in Verbindung gebracht, berühmtestes Beispiel dürfte dabei der deutliche Erfolg des Front National in Frankreich sein. Auch in Dänemark, Österreich und Großbritannien verzeichneten rechte bis rechtsextreme sowie eurokritische Parteien starke Stimmenzuwächse, in Deutschland erhielt die Alternative für Deutschland sieben Prozent.

Richtig Handeln, aber wie?

Wo sehen die Autoren das Problem?

Ein klares Zeichen für den Europaskeptizismus der Bürger sei das, so Cansel Kiziltepe (SPD), Lisa Paus (Grüne) und Axel Troost (Linke) im Vorwort zu ihrem Beitrag in der Schriftenreihe „Denkanstöße“ des Instituts „Solidarische Moderne“. Eine „Zwischenbilanz nach fünf Jahren Eurokrise“ wollen sie mit ihrem Papier ziehen; sie wollen aufzeigen, dass die Eurokrise noch lange nicht überwunden ist, dass Merkels Weg nicht aus dieser Krise führen wird und dass aus der Finanzkrise von 2009 längst eine Wirtschafts- und nun mit Blick auf die Europawahl also auch eine politische Krise geworden ist.

Als prominentes Fallbeispiel ziehen die Autoren Griechenland heran, dessen Statistiken von zahlreichen Quellen als Beleg für die Auswirkungen der von der Troika verordneten Sparpolitik herangezogen wird: Kiziltepe, Paus und Troost zitieren etwa „Spiegel Online“, wo (in einem nicht mehr verfügbaren Artikel vom Februar) ein Anstieg der Säuglingssterblichkeit in Griechenland um 43 Prozent auf die Finanzpolitik von Merkel und Co. zurückgeführt werden soll, anhand eines Artikels von David Stuckler und Sanjay Basu für Fachzeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ stellen außerdem den ruinösen Einfluss der Sparpolitik auf das griechische Gesundheitssystem heraus.

Wie wollen sie es lösen?

Auch in Anbetracht weiterer Krisenstaaten wie Portugal, Irland oder Spanien malen Kiziltepe, Paus und Troost ein düsteres Bild für Europa: „Die europäischen Konservativen, geführt von der deutschen Kanzlerin Merkel, stehen vor dem Scherbenhaufen ihrer kommunikativen und wirtschaftspolitischen Strategie“, bilanzieren die Autoren das Ergebnis der Europawahl. Eine Fortsetzung des bisherigen Kurses führe definitiv nicht aus der Krise.

Stattdessen müsse man beim Europaparlament ansetzen. Dieses müsse gestärkt werden und mehr Handlungsbefugnisse zugesprochen bekommen. „Wir brauchen ein Parlament, das echte Kompetenzen besitzt, und Abgeordnete, die etwas bewegen können“, so Kiziltepe, Paus und Troost. Die Abgeordneten fordern eine „Durchbrechung des Spardiktates“, eine Aufbrechung des Nationalismus und den „Mut zu einer besseren Finanzausstattung der europäischen Ebene“.

Kurz gesagt: Die Nationalstaaten sollen Kompetenzen abgeben, das Europaparlament mehr Macht erhalten, schließlich gehe es um europaweite, nicht nationale Belange. („Entscheidend sind die Rechte des Europäischen Parlaments. Keinesfalls dürfen die gesamt-europäischen Kompetenzen in die Hände der Exekutiven der Mitgliedsstaaten fallen.“)

Wie lässt sich dieser Vorstoß einordnen?

Das wäre also der Weg aus der Krise, den Kiziltepe, Paus und Troost gerne gehen würden. Damit reihen sie sich ein in die Liste vieler Politiker, Politikwissenschaftler und Laien, die jeweils verschiedene Lösungsvorschläge propagieren. Eine übersichtliche Debatte weit verbreiteter Ansätze liefert die Bundeszentrale für politische Bildung auf ihrer Website.

Sicherlich richtig ist, dass die von den Mitgliedsstaaten eingeforderten Sparmaßnahmen in den hilfsbedürftigen Nationen, allen voran Griechenland, mit zahlreichen negativen Folgen für die Bevölkerung einhergehen. Das muss jedem offensichtlich werden, der selbst bereits einmal über seine Verhältnisse gelebt hat und anschließend stark zurückhaltend wirtschaften musste: Das Leben ist schöner, wenn man nicht aufs Geld achten muss (was natürlich eine stark vereinfachte Darstellung ist, geht es tatsächlich doch um politische Systeme, nicht um den Privathaushalt eines Studenten im vierten Semester). Richtig scheint auch, dass Griechenland noch immer nicht auf der sicheren Seite steht, dass eine Sanierung immer noch auch bezweifelt werden kann, wie beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt.

Man mag außerdem mit den Autoren darin übereinstimmen, dass das Ergebnis der Europawahl 2014 natürlich auch durch die derzeitige Situation in Gesamteuropa beeinflusst wurde (alles andere wäre der Vorwurf der Gedankenlosigkeit gegenüber den Wählern). Andererseits fällt es den Verfassern dann aber doch wieder besorgniserregend leicht, nicht nur die gesamt-europäische, sondern auch die eben doch gleichermaßen wichtige innenpolitische Lage in den Mitgliedsstaaten zu berücksichtigen. Ein Kommentar zu den vom „Bayerischen Rundfunk“ dargestellten Wahlergebnissen zeigt (wenn auch subjektiv eingefärbt) die Bandbreite der Einflüsse auf den Ausgang der Urnengänge: „Der Vormarsch der Europaskeptiker hat doch viele Gründe: In Frankreich regiert ein Präsident, der vor allem durch Frauengeschichten und als Realitätsverweigerer auffällt, während das Land in den Ruin treibt. In England zahlen die Menschen die Zeche für die Thatcher Ära mit ihrer Deindustrialisierung, viele Länder haben ein Schuldenproblem und die Schuld für alles Schlechte wird von den nationalen Politikern gerne auf Europa geschoben.“

Kiziltepe, Paus und Troost müssen sich also den Vorwurf gefallen lassen, auch ihr Lösungsvorschlag sei zu einseitig, zu generalisierend und gleichzeitig zu engstirnig. Was bleibt dann noch? Zumindest eine gewisse politische Brisanz, wie die „Frankfurter Rundschau“ es nennt: Die Sozialdemokratin Kiziltepe ist Mitglied des Finanzausschusses des Bundestags, ihre Partei Koalitionspartner der CDU. Eine derart offene Kritik an Merkels Europapolitik könnte als unangebracht angesehen werden. Inwiefern der Vorstoß des rot-rot-grünen Minimalbündnisses allerdings tatsächlich für Aufsehen sorgt, ist fraglich.