VON CLEMENS POKORNY
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31.08.2014 14:18
„Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.“ (Karl Valentin) – Über Sprache und Integration
Zuwanderern wird mangelnder Integrationswille insbesondere dann unterstellt, wenn sie sich nicht oder kaum auf Deutsch verständlich machen können. Denn erst Sprache auf einem formellen Niveau ermöglicht die Teilhabe an gesellschaftlichen Institutionen. Doch für solche Probleme können Nicht-Muttersprachler nicht alleine verantwortlich gemacht werden. Auch der Staat und die Muttersprachler müssen mehr für Integration tun, denn Deutschlands Nachholbedarf hierin nimmt nicht ab.
„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Bedauerlich, dieses Bekenntnis des Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein. Denn zur „Welt“ jedes einzelnen Menschen gehört auch non-verbale Kommunikation, die als solche zu wenig komplex ist, um als „Sprache“ bezeichnet zu werden. Und in der Interaktion mit anderen Menschen, aber auch Tieren spielt non-verbale Verständigung sogar eine nachweislich wichtigere Rolle als der sprachliche Austausch. Nur: Gesellschaftliche Teilhabe bedarf auch des sprachlichen Austauschs, also einer Kommunikation auf höherem Niveau. Und so werden die vielen Menschen in Deutschland, die die deutsche Sprache nicht oder nur unzureichend beherrschen, von etlichen Lebensbereichen und -chancen ausgeschlossen.
Aus der Hölle in die Hölle
In wohl kaum einem Bezug treten die internationalen Verschiedenheiten innerhalb der EU dermaßen deutlich zu Tage wie hinsichtlich des Asylsystems
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„Integration ist eine Bringschuld.“ Mit diesem Wahlwerbeslogan brachte die Partei AfD 2013 eine Stammtischparole auf die Straßen. Ganz offensichtlich sollten sich auch ausländerfeindliche Wähler davon angesprochen fühlen. Doch Integration lässt sich nicht so einseitig bestimmen. In Sachsen, wo Parteien des rechten Rands die größten Erfolge bundesweit verbuchen können, gibt es zugleich die wenigsten Menschen mit Migrationshintergrund. Diese Korrelation bestätigt die soziologische Erkenntnis, dass Angst vor Ausländern und Hass ihnen gegenüber letztlich vor allem ein Kommunikationsproblem ist: Nur gegen denjenigen, den man nicht gut kennt, kann man Ressentiments entwickeln. Wenn man übereinander statt miteinander redet, kann keine Gemeinschaft entstehen. Zum Dialog gehören aber nun einmal zwei. Also reduziert der AfD-Spruch Integration auf eine von zwei unauflöslich miteinander verbundenen Seiten und stellt damit unausgesprochen klar: Wir wollen Fremde nicht so, wie sie sind, sondern nur als uns Gleiche. Die Gleichmacherei, die rechte Parteien an linker Politik gerne kritisieren, betreiben sie somit selbst, indem sie die Verschiedenheit der Kulturen und Lebensentwürfe im Deutschland des 21. Jahrhunderts nicht anzuerkennen bereit sind und am liebsten allen in zentralen Lebensbereichen genau vorschrieben, wie sie zu leben haben – man denke nur an die Diskussionen über den Bau von Moscheen, die alltägliche Feindseligkeit gegenüber Andersdenkenden und Andersfühlenden, kurzum: an die soziale Ausgrenzung aller, die dem Mainstream nicht entsprechen wollen oder können.
Auch wenn Nicht-Muttersprachler sich anpassen wollen, so stehen sie doch vor großen Herausforderungen. Denn weite Teile gesellschaftlicher Teilhabe hängen von sprachlicher Verständigung ab. Zwar garantiert das Grundgesetz, dass niemand wegen seiner Sprache benachteiligt wird (Art. 3), doch einen Arbeitsplatz oder Freunde zu finden setzt nun einmal ein Mindestniveau an Sprachbeherrschung voraus. Als in den 1960er-Jahren vor allem Türken und Italiener nach Deutschland kamen, um dem Arbeitskräftemangel abzuhelfen, glaubte die Politik allen Ernstes, dass die „Gastarbeiter“ nach einigen Jahren wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. Doch die „Fremden“ arbeiteten ja nicht nur in Deutschland, sondern lebten auch hier, bauten sich Existenzen auf und wurden zusehends zu „Vertrauten“. Die Verantwortlichen in Gesellschaft und Politik versäumten es indes, an deren Integration in großem Stil mitzuwirken, und die oftmals mangelhaft bleibende Beherrschung der deutschen Sprache pflanzte sich häufig über die nachfolgenden Generationen der Einwandererfamilien weiter. Selbst bei den
seit 2005 eingerichteten Integrationskursen erreicht nur die Hälfte der Teilnehmer nach 600 Stunden Deutschunterricht das B1-Niveau nach dem Europäischen Referenzrahmen, das für umfassende gesellschaftliche Teilhabe eine Voraussetzung ist.
Warum nehmen in der zweiten Generation von Zuwandererfamilien die Probleme nicht ab? Zwar
wachsen 33% der Großstadtkinder im Grundschulalter zweisprachig auf, doch weil sie überdurchschnittlich häufig aus bildungsfernen Familien kommen, gelingt diese Mehrsprachigkeit nicht. Folge: Sie beherrschen keine der beiden (oder mehr) Sprachen richtig, weil sie daheim nicht auf den Umgang mit Schriftlichkeit vorbereitet werden. Doch
erst die Schriftsprache erlaubt, Gedanken nicht nur auszudrücken, sondern weiterzuentwickeln, und ermöglicht somit höhere Bildung. Stattdessen bewegen sich viele mehrsprachig aufwachsende Kinder in keiner Sprache auf einem formellen Niveau, das ihnen Zugang zu höheren Bildungsabschlüssen und guter Arbeit ermöglichte – und damit zu vielen Bereichen gesellschaftlicher Teilhabe.
Wenn Integration also von sprachlichen Barrieren dauerhaft verhindert wird und in Großstädten Ghettos entstehen, in denen die deutsche Sprache kaum gesprochen wird, lassen sich in aller Regel dafür nicht einzelne Schuldige benennen. Integration ist eine Bringschuld – die aber von allen Beteiligten eingelöst werden muss, also auch von Menschen, die seit vielen Generationen in Deutschland leben und nie eine andere Muttersprache als Deutsch gesprochen haben. Denn die Bundesrepublik wird aller Voraussicht nach ein Einwanderungsland bleiben, was angesichts des für die kommenden Jahrzehnte zugleich prognostizierten Bevölkerungsrückgangs auch unproblematisch ist.