VON LISI WASMER | 18.08.2014 14:32

Stell Dir vor, Du denkst an nichts – Denken und Sprache

Die Beschäftigung mit dem Zusammenhang zwischen Sprache und Denken ist beileibe kein neuzeitliches Phänomen. Schon Platon erkannte das enge Miteinander von Kognition und Sprechen: Denken sei das „innere Gespräch der Seele mit sich selbst“. Auch in der Alltagserfahrung scheinen wir uns beim Nachdenken gewissermaßen mit uns selbst zu unterhalten, wenn wir etwa Für und Wider einer Entscheidung gedanklich gegeneinander abwägen. Darüber hinaus ist der Einfluss unserer Sprache auf unsere Kognition unbestreitbar. Trotzdem gibt es auch Denken ohne Sprache. Die Frage ist nur: Wie und in welcher Form?

Ein Name, der im Zusammenhang mit Sprachphänomenen häufig fällt, ist Helen Keller. Die Ende des 19. Jahrhunderts geborene Amerikanerin war nach einer Hirnhautentzündung vom frühen Kindesalter an taubblind. Dennoch konnte sie mit ihren Mitmenschen kommunizieren, lernte Lesen und Schreiben und sogar bis zu einem gewissen Grad Sprechen. In der Regel steht Keller als Beispiel dafür, welche Bereicherung unsere Sprachfähigkeit für unsere Erfahrungswelt bedeutet. An dieser Stelle soll sie aber vor allem eine Aussage untermauern: Auch ohne Sprache kann gedacht werden.

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Denken ohne Sprache

Was uns auf den ersten Blick vielleicht unmöglich erscheinen kann, wird gerade am Beispiel von Helen Keller ganz eindeutig: Denn wie hätte Keller Lesen, Schreiben, sogar Sprechen lernen können, hätte sie nicht zumindest die Fähigkeit zu Denken schon vorab gehabt? Das Gleiche gilt natürlich für jedes Kleinkind, das sich erst nur durch Emotionen (Weinen, Lachen, Schreien) verständigen kann, nach und nach erste Wörter lernt und ab einem bestimmten Alter schließlich anfängt, sich in ganzen Sätzen mit seinen Mitmenschen zu unterhalten. Allein, in Helen Kellers Fall scheint die aufzubringende Anstrengung zum sonst so natürlichen Vorgang des Spracherwerbs doch ungleich höher – und doch: es geht. Denken existiert also scheinbar unabhängig von der Sprechfähigkeit, gewissermaßen vorsprachlich. Eine Frage bleibt aber: Wie kann man ohne Sprache denken? Beziehungsweise, was?

Bildliche Vorstellungen sind beispielsweise ohne Sprache möglich, sagt Gabor Paal in der SWR-Informationssendung „1000 Antworten“. Tatsächlich gibt es sogar Gedanken, die mit Worten kaum zu beschreiben sind, wie etwa Prozesse, beziehungsweise Vorgänge. „Das wird schnell klar, wenn Sie sich vorstellen, Sie müssten jemandem nur mit Worten erklären, wie man einen Schnürsenkel bindet“, sagt Paal. Allerdings räumt er auch ein, es gebe auch „bestimmte Formen des Denkens, bestimmte kognitive Leistungen, die ganz klar an Sprache gebunden sind“. Grob könnte man sagen, je abstrakter - also je un-an-schau-licher – ein Gedanke ist, desto stärker müssen wir auf die Sprache zurückgreifen, um ihn nachzuvollziehen. Sofort einsichtig wird das an folgendem Beispiel: Wir können uns Sachverhalte sprach-unabhängig denken; ihre Negationen aber nicht. Weil wir uns nichts vorstellen können, was es nicht gibt.

Denken trotz Sprache

Die Sprache hilft uns also dabei, vor allem komplexe Gedankengänge zu entwickeln. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass Sprechen unsere kognitiven Fähigkeiten durchaus auch einschränken kann.

Das einfachste Beispiel liefern Wissenschaftler, denen es nicht gelingt, hochintelligente und ausgereifte Gedanken so zu verbalisieren, dass sie für andere (und seien es auch ebenbürtige Experten) eindeutig nachvollziehbar sind. Das liegt zum einen an der Subjektivität der Sprache, also daran, dass ich – kommunikationstheoretisch gesprochen - nie sicher sein, dass die von mir gesendete Botschaft beim Empfänger eben gerade so ankommt, wie ich es beabsichtige; das ist zum anderen aber auch ein Hinweis darauf, dass Sprache nicht in der Lage ist unsere Gedanken vollständig und erschöpfend wiederzugeben.

Ein anderes Beispiel liefern Stefanie Schramm und Claudia Wüstenhagen in ihrem „Zeit“-Artikel zur Sprachpsychologie. Sie verweisen auf den Roman „1984“, in dem George Orwell ein düsteres Zukunftsszenario in einem totalitären Staat beschreibt, der seine Bevölkerung nicht zuletzt über die Sprache zu kontrollieren versucht: Wörter, die im Zusammenhang mit einem Aufstand verwendet werden könnten, werden einfach aus dem Sprachschatz getilgt. Die beiden Autoren haben außerdem zahlreiche wissenschaftliche Studien zusammengetragen, die den Verdacht erhärten, unsere Sprache habe einen entscheidenden Einfluss auf unsere Kognition. Dass diese allerdings gänzlich auf die Fähigkeit zu Sprechen angewiesen wäre, diese Behauptung wird allein schon vor dem Hintergrund noch nicht sprachfähiger Kleinkinder zurückgewiesen.

Denken als Sprache

Und gerade hier tut es sogar noch eine dritte Sichtweise auf: dass Denken in Wirklichkeit schlicht eine ganz eigene Sprache besitzt. „Mentalesisch“ nennt sie beispielsweise Steven Pinker, so Dietrich Dörner vom Institut für Theoretische Psychologie der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg in seinem Enzyklopädie-Beitrag zu Denken und Sprache. Der wohl bekannteste Name im Zusammenhang mit dieser „Language of Thought“ (LOTH) ist Jerry Fodor, amerikanischer Philosoph und Kognitionswissenschaftler: Seiner Meinung nach arbeitet der Geist mit Repräsentationen der Wirklichkeit, die nach einer dem Mentalen eigenen Syntax zu ganzheitlichen Gedanken zusammengesetzt werden.

Letzten Endes scheint sich also keiner der beiden extremen Standpunkte durchsetzen zu können. Weder ganz ohne, noch ausschließlich mit Sprache kann (zumindest ab einem gewissen Komplexitätsniveau) gedacht werden. Ja, es gibt eine Form des Denkens, die keiner Sprache bedarf. Und gleichzeitig auch ja, zumindest abstraktes Denken setzt immer auch den Rückgriff auf Sprache voraus. Denken ist Sprache. Denken ist sprachunabhängig. Die Wahrheit liegt wohl wie so oft dazwischen.