VON LISI WASMER | 25.06.2014 16:41

Der Islam im Konflikt – Schiiten und Sunniten

Die Spaltung des Islam in Schiiten und Sunniten ist fast so alt wie die Religion selbst: Nach dem Tod des Religionsstifters Mohammed herrschte Uneinigkeit darüber, wer sein rechtmäßiger Nachfolger als Leiter der Gemeinde sei. Die Unterschiede zwischen beiden Strömungen hinsichtlich des Glaubens und der religiösen Praxis sind nicht sehr groß, die Kluft zwischen Schiiten und Sunniten umso tiefer: Im Libanon und im Irak, in Syrien und in der arabischen Golfregion zeugen bewaffnete Auseinandersetzungen von der gegenseitigen Ablehnung der Konfessionen – eine Ablehnung, die im Grunde vor allem säkular motiviert ist.


Die Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ der Deutschen Islam Konferenz aus dem Jahr 2009 berichtete rund vier Millionen in Deutschland lebende Muslime. Fast drei Viertel davon, 74 Prozent, gehören der Glaubensrichtung der Sunniten an, Aleviten und Schiiten bilden gemeinsam etwa 20 Prozent. Sie stellen somit neben den Sunniten, die laut „Süddeutscher Zeitung“ etwa 90 Prozent aller Muslime weltweit ausmachen, die Konfession mit den meisten Anhängern dar. Es ist deshalb nicht weiter überraschend, dass Schiiten und Sunniten die wohl bekanntesten Glaubensrichtungen im Islam darstellen – eine Bekanntheit, die auch einen traurigen Grund hat: Immer wieder kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der beiden Konfessionen. Wo aber liegt eigentlich der Unterschied zwischen den Strömungen? Und wodurch wird der tiefgreifende Konflikt aufrechterhalten?

Töten mit Gottes Erlaubnis

Chronik der Spaltung

Die Spaltung des Islam in verschiedene Konfessionen ist fast so alt wie die Religion selbst, wie Prof. Dr. Christine Schirrmacher vom evangelischen Institut für Islamfragen in einer kurzen Abhandlung zur Entstehung der schiitischen Gemeinschaft beschreibt: 632 n. Chr. stirbt der Religionsstifter Mohammed. Für seine Nachfolge als Leiter der Gemeinde soll ein Kalif bestimmt werden. Die Sunniten fordern eine Wahl unter den direkten Gefährten des Propheten, die Schiiten hingegen verlangen einen direkten Nachkommen Mohammeds. Ihr Name leitet sich vom arabischen Ausdruck „Schi’at ‚Ali“ ab, d.h. sie sind Anhänger Alis, des Neffen und Schwiegersohns Mohammeds. Tatsächlich wird Ali Kalif, allerdings erst nach dem Tod dreier Vorgänger. Die Schiiten leugneten die Rechtmäßigkeit dieser drei Kalifen, außerdem warfen sie den Sunniten vor, Stellen aus dem Koran gestrichen zu haben, nach denen Mohammed Ali eindeutig als seinen rechtmäßigen Nachfolger ausgewiesen habe.

Die Herausbildung der Schia als tatsächliche Konfession erfolgt allerdings erst später. 29 Jahre nach Mohammeds Tod, im Jahr 661 n. Chr., wird der Kalif Ali ermordet, womit die letzten beiden männlichen Nachkommen des Propheten seine Enkel al-Hasan und al-Hussein waren. Ersterer verzichtete jedoch auf das Kalifat (oftmals wird Bestechung als Grund genannt), letzterer stirbt in der Schlacht von Kerbela im heutigen Irak im Kampf gegen die übermächtigen Sunniten. Damit ist der weltliche Machtanspruch der Schiiten hinfällig, eine geistliche Strömung entsteht. Die Schiiten glauben je nach Ausrichtung an bis zu zwölf Gemeindeleiter (Imame), die, so erklärt es ein Beitrag des „SWR“ zur Spaltung des Islam in Sunniten und Schiiten, alle den Märtyrertod starben – alle bis auf den letzten. Dieser lebt im „Verborgenen“ und trägt messianische Züge: Die Schiiten warten auf seine Wiederkehr.

Konflikt ohne Konfession

Interessant ist: Kaum eine Quelle macht tatsächlich konfessionelle Unterschiede für den fortdauernden Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten verantwortlich. Im Gegenteil, hinsichtlich des Glaubens und der religiösen Praxis gibt es kaum einen Unterschied zwischen Sunniten und der Mehrheit der Schiiten, heißt es sogar auf der Website der Christlich-Islamischen Gesellschaft. Und auch der SWR-Beitrag zeigt eine Einschätzung des Konflikts als vorwiegend säkular motiviert.

Wirft man einen Blick auf die Chronik der Auseinandersetzungen, kann man dieser Meinung durchaus etwas abgewinnen: Die Konfrontation von Sunniten und Schiiten eskaliert erstmals im libanesischen Bürgerkrieg 1975-1990, ihre Fortsetzung findet sie 2006 im Krieg mit Israel – eine Eskalation, die es davor nicht gegeben hat, sagt der Vizebürgermeister des Bergdorfs Wardaniyeh im Südlibanon, selbst Schiit mit christlicher Frau und sunnitischen Verwandten, gegenüber dem SWR. Es sei kein konfessioneller Streit, sondern ein politischer.

Politik auf Kosten der Religion

Diese Einschätzung teilt laut SWR-Beitrag auch der Politikwissenschaftler Dr. Toby Matthiessen von der University of Cambridge: So äußert er gegenüber dem SWR die Vermutung, in den von Sunniten regierten arabischen Golfstaaten werde die Gewalt zwischen den Konfessionsgruppen bewusst angefacht, um einen vereinten Aufstand von Sunniten und Schiiten im eigenen Herrschaftsgebiet zu vermeiden. Mit einem analogen Statement wird im Beitrag die Journalistin und ehemalige Damaskus-Korrespondentin Kristin Helberg zitiert: Im Frühjahr 2011, also zu Beginn des „arabischen Frühlings“ habe der syrische Präsident Baschar al-Assad zahlreiche radikale Jihadisten aus der Haft entlassen, um die Unruhen durch eine Terrorisierung der Zivilbevölkerung zu unterbinden. Auch der Vorwurf, er lasse der Organisation ISIS freie Hand, wird geäußert. Was klar ist: Rein religiös kann der Konflikt und die andauernden Kämpfe zwischen Sunniten und Schiiten nicht erklärt werden. Es geht um Politik, es geht um Macht.

Und der Westen? Der sei laut Mathiessen dringend dazu aufgerufen, seine Politik im Nahen und mittleren Osten zu überdenken. Er wendet sich an die USA, an die EU, aber auch an Deutschland. Die militärische Unterstützung alter Allianzen wie etwa Saudi-Arabien müsse abgebrochen, stattdessen eine Politik der Völkerverständigung praktiziert werden. Auch der Vizebürgermeister von Wardaniyeh wünscht sich eine Versöhnung von Schiiten und Sunniten. Ob diese tatsächlich erreicht werden kann, bleibt in Anbetracht der zahlreichen und übermächtigen Einflüsse auf das sunnitisch-schiitische Verhältnis mehr als fraglich.