ANJA H. | 22.10.2012 11:49

Wie weit sollte Religionsfreiheit gehen?

Kruzifixe in Klassenzimmern, Lehrerinnen mit Kopftüchern, muslimische Schülerinnen die dem Schwimmunterricht fernbleiben, religiös motivierte Beschneidungen, Koranverteilungen in deutschen Innenstädten – das sind nur ein paar der zahlreichen Auslöser heftiger Debatten um das Verhältnis von Religion und Integration bzw. Religion und Staat allgemein. Dabei lautet die Kernfrage immer wieder: Darf Religion demokratische Grundprinzipien unterwandern und muss toleriert werden?

Wo beginnt Religionsfreiheit und wo hört sie auf? Darf der Staat in die Religionsausübung seiner Bürger eingreifen oder nicht? Müssen Migranten zugunsten einer geglückten Integration ihre Religion aufgeben und welche Ansprüche darf der Staat diesbezüglich stellen?

Zuletzt rückte vor allem der Streit um das Thema der religiösen Beschneidung den Konflikt wieder verstärkt in die Öffentlichkeit und zeigte, wie schwer eine klare Trennlinie zu ziehen ist.

Michael Schmidt-Salomon verweist im "Manifest des evolutionären Humanismus" der Giordano Bruno Stiftung auf die Grenzen weltanschaulicher Neutralität des deutschen Staates. So schreibt er: "Weltanschaulich neutral kann sich der Staat nur dort verhalten, wo weder die humanistischen, auf den Menschenrechten beruhenden ethischen Prinzipien des Grundgesetzes noch die Seriosität des Bildungsauftrags auf dem Spiel stehen".

So hat das Bundesjustizministerium jüngst entschieden, dass Beschneidungen bei Jungen grundsätzlich erlaubt sind, in etwa so, wie Abtreibungen eigentlich illegal, aber straffrei bleiben. Zudem darf auch jemand, der keine medizinische Approbation hat, wie etwa ein Rabbi, in den ersten sechs Monaten nach der Geburt, eine Beschneidung vornehmen. Beschneidungsgegener, wie das Deutsche Kinderhilfswerk sehen das Kindswohl gefährdet, und in der Tat ist der religiöse Akt ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes. Für sie stellen rechtssichere Beschneidungen sogar Kindesmisshandlung dar. Hier stellt sich die Frage, inwiefern der Staat eingreifen sollte, denn das Grundgesetz schreibt vor, das Wohl des Kindes in jedem Falle voranzustellen. Wird ein Kind beschnitten, wird den religiösen Gefühlen der Eltern Priorität verliehen.

Recht für Jedermann

Die Debatte ist insofern eine sehr hitzige und aufgeladene, da Religion manchmal demokratischen Grundprinzipien widerspricht, wie im Falle der Beschneidung oder zum Beispiel der Ungleichbehandlung von Mann und Frau. Aber es reicht auch nur ein Blick in das deutsche Grundgesetz, um zu verstehen, wie diese Interessenskonflikte entstehen können. Laut diesem muss die ungestörte Religionsausübung gewährleistet werden (Artikel 4), zugleich soll aber auch körperliche Unversehrtheit in Artikel 2.1 garantiert werden.

Grundsätzlich sollte es selbstverständlich sein, religiöse Handlungen zu unterbinden, wenn diese das Grundgesetz oder die Menschenrechte unterwandern, allerdings ist gerade Deutschland aufgrund seiner Vorgeschichte dieser Balanceakt eher missglückt, da oftmals Toleranz geübt wird, wo keine angebracht sein sollte, und die Herangehensweise sehr zögerlich ist. Integration glückt dann, wenn nicht nur die Gemeinschaft, die integriert, Toleranz übt, sondern auch diejenigen, die neu in eine Gemeinschaft aufgenommen werden, Respekt gegenüber den Gesetzen dieser zeigen. Dazu gehört dann eben auch, die eigenen religiösen Praktiken zu überdenken und neu zu verhandeln, und sich nicht auf Straffreiheit zu verlassen. Andererseits müsste der Staat seine Prioritäten ebenfalls neu setzen, da es ein wichtiges Ziel sein sollte, die seelische und körperliche Unversehrtheit eines Menschen noch vor der Religionsfreiheit zu gewährleisten, denn ist diese nicht gegeben, fehlt die Basis, anhand derer sich ein Mensch entwickeln und selbst entfalten kann, auch in religiöser Hinsicht. Deutschland ist nach dem 2. Weltkrieg natürlich bemüht, größtmögliche Toleranz zu üben und sich großzügig gegenüber anderen Denkweisen zu zeigen. Allerdings vergisst der deutsche Staat eben oft, dass es auch manchmal Grenzen zu setzen gilt.