VON CLEMENS POKORNY
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15.10.2012 12:52
Wie religiös ist Deutschland?
Über 80 verschiedene Glaubensgemeinschaften gibt es in der Bundesrepublik, doch mit mindestens 30 Millionen Menschen oder über einem Drittel der Gesamtbevölkerung bezeichnen sich die Meisten als bekenntnislos. Abkehr von der organisierten Religion, Werteverfall oder Flucht in die Esoterik?
Die größte Glaubensgemeinschaft in Deutschland ist gar keine: über ein Drittel der Menschen hierzulande bezeichnen sich laut verschiedenen Statistiken als konfessionslos. Mit jeweils etwa 30% folgen die römisch-katholische sowie die evangelischen Landeskirchen. Von den restlichen rund 7% entfallen die meisten (5%) auf in der Regel zugewanderte Muslime, die übrigen 2% teilen sich nicht weniger als 80 Religionsgemeinschaften mit teilweise weniger als 1000 Gläubigen bundesweit. Während im Süden traditionell die Katholiken dominieren, gehört der Norden und Westen den Evangelischen und der Osten ist für alle Religionen eher Diaspora. Seit Ende der 1980er-Jahre verzeichnen die beiden großen christlichen Gemeinschaften Austrittsraten von jährlich fast immer über 100.000.
Sich selbst vertrauen
fällt vielen Menschen schwer, ihre Schwächen zeigen sie nur ungern und Scheitern ist für viele der Beweis dafür, dass sie einer Aufgabe nicht gewachsen sind...
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So weit die Zahlen. Hinter ihnen steht natürlich eine historische Entwicklung. Das Kernland der Reformation im Osten Deutschlands unterlag zu DDR-Zeiten einer staatlich forcierten Säkularisierung. Während die evangelische Kirche sich als „
Kirche im Sozialismus“ mit dem SED-Regime arrangierte, beschrieben Katholiken ihr Leben in der DDR als eines im „fremden Haus“. Christen mussten verschiedene Repressionen hinnehmen, welche die qua Verfassung garantierte Religionsfreiheit einschränkten; allerdings finanzierte der Staatssozialismus christliche Priester. Tatsächlich ging der Anteil der Gläubigen im Laufe der über vierzig Jahre DDR immer mehr zurück, sodass bis heute Bekenntnislose in Ostdeutschland die überwiegende Mehrheit bilden und das Gebiet die
niedrigste Kirchenzugehörigkeit in ganz Europa verzeichnet. Weil zugleich besonders in Westdeutschland mehr Protestanten als Katholiken aus der Kirche austreten, zählt die katholische Kirche in der Bundesrepublik seit wenigen Jahren wieder mehr Mitglieder als die evangelische.
Die Ursachen dieser Entwicklung liegen nicht etwa in einer mangelhaften finanziellen Ausstattung der christlichen Glaubensgemeinschaften. Als Entschädigung für den in der Reformation und später vor allem während der Säkularisierung enteigneten Kirchenbesitz
zahlen die Bundesländer bis heute jedes Jahr etliche Millionen Euro an die beiden großen Kirchen, obwohl die Forderungen
nach Einschätzung des Koordinierungsrates säkularer Organisationen – des Dachverbandes der Konfessionslosen in Deutschland – längst abgegolten sind. Während in Zeiten leerer Kassen der Ruf nach der schon in der Weimarer Verfassung festgeschriebenen
„Ablösung“ der Staatszahlungen an die Kirchen auch in den Parlamenten immer lauter wird, klammern sich diese an ihre Dotationen: „Kirche [...] neigt [...] dazu, einmal erworbenes Gut und erworbene Positionen zu verteidigen. Die Fähigkeit zu Selbstbescheidung und Selbstbeschneidung ist nicht in der richtigen Weise entwickelt“ (Joseph Ratzinger). Zudem treibt der Staat noch immer die Kirchensteuer ein.
Diese ist insbesondere in Westdeutschland ein wichtiger Anlass für den Kirchenaustritt – aber selten der eigentliche Grund. Vielmehr geben
Ex-Gläubige als Begründung für ihren Schritt meistens an, sich nicht mit der Institution Kirche identifizieren zu können, ihre Sexualmoral nicht zu teilen oder sich von innerkirchlichen Vorgängen wie den verschiedenen Missbrauchsskandalen abgestoßen zu fühlen, vor deren Hintergrund die kirchlich gepredigte Moral als Heuchelei empfunden würde. Besonders im Osten scheint die Verweltlichung durch den „real existierenden Sozialismus“ dauerhaft Bestand zu haben, weil die Austretenden dort mit Religion häufig grundsätzlich nichts mehr zu tun haben wollen, während Westdeutsche
oft angeben, ihre christliche Weltanschauung auch ohne Kirchenzugehörigkeit leben zu können. Wie viele ehemalige Kirchenmitglieder aber nach ihrem Austritt tatsächlich ihren Glauben weiterhin leben oder auch neue Spiritualität jenseits von organisierter Religion suchen, ist bislang unerforscht. Dass aber die Abkehr vom Glauben Ursache oder Folge von Werteverfall sei,
dürften Bekenntnislose bestreiten.