VON CLEMENS POKORNY | 31.10.2013 15:14

Pygmäen: Das „Volk“, das es gar nicht gibt

Sie leben im afrikanischen Regenwald als Jäger und Sammler und werden meist nicht größer als 155 cm. Viel mehr haben die vier Hauptgruppen, die die Ethnographen unterscheiden, nicht gemeinsam. Ihre Zusammenfassung unter einen Begriff wird oft als unwissenschaftlich und diskriminierend abgelehnt; sie bilden kein Volk. Trotzdem haben sich mehrere Menschenrechtsorganisationen ausdrücklich der Unterstützung der „Pygmäen“ verschrieben. Warum?

Berichte über kleinwüchsige Völker südlich der Sahara kannten schon die alten Ägypter, einzelne Pygmäen sollen sogar an die Höfe der Pharaonen verschleppt worden sein. Von der griechischen Antike an bis zur „Entdeckung“ des Schwarzen Kontinents durch Missionare, Abenteurer, Menschenräuber und Kolonialherren galten sie als sagenhaftes Volk, das auch in Teilen Asiens verbreitet war. In der frühen Neuzeit wurde diese Ansicht ins Reich der Legenden verwiesen. Doch seit dem 19. Jahrhundert existieren sie auch in außerafrikanischen Köpfen wieder unumstritten – die Frage ist nur, wie lange noch.

2010 betitelte die UN die Demokratische Republik Kongo offiziell als "Welthauptstadt der Vergewaltigung"

„Pygmaíoi“, „Fausthohe“, nannten die alten Griechen das mythische Volk und meinten mit „pygmé“ („Faust“) ein Längenmaß, etwas kürzer als eine Elle. Die heute unter dem Begriff „Pygmäen“ zusammengefassten Gruppen werden durchschnittlich 144 cm (Frauen) bzw. 153-156 cm (Männer) groß. Erst mit der Pubertät verlangsamt sich ihr bis dato normales Wachstum aufgrund genetisch bedingt verringerter Produktion insulinähnlicher Wachstumsfaktoren. Pygmäen leben meist monogam in kleinen Gruppen ohne hierarchische Strukturen oder geschlechtsbezogene Arbeitsteilung als Jäger und Sammler im Urwald. Sie sprechen die in der jeweiligen Region – beide Kongos, Zentralafrikanische Republik, Ruanda, Burundi, Sambia – vorherrschende Sprache, die in der Regel zur Gruppe der im südlichen Afrika vorherrschenden Bantusprachen gehört. Die Gebiete, in denen die übrigens nomadisch lebenden Pygmäen anzutreffen sind, lassen sich klar voneinander abgrenzen und sind ohne Verbindung so weit verstreut, dass die Ethnographie von vier Hauptgruppen ausgeht, deren Körpergröße ihr einziges Alleinstellungsmerkmal darstellt.

Aus eben diesem Grund muss eine Zusammenfassung der verschiedenen Völker alleine aufgrund äußerlicher Merkmale und als Diskriminierung im Wortsinne („einen Unterschied machen“, und zwar seitens Außenstehender) als problematisch gelten. Die verschiedenen Stämme haben dementsprechend nur Eigenbezeichnungen für sich selbst und keine übergreifende wie die aus eurozentrischem Denken entstandene der Kleinwüchsigen als „Pygmäen“. „Waldvolk“ wäre aufgrund der engen Beziehung zwischen Menschen und Natur eine treffende und relativ neutrale Bezeichnung.

Doch die Pygmäen haben drängendere Probleme als die Bezeichnung für ihr jeweiliges Volk durch Andere. Manche verloren ihre Heimat paradoxerweise durch die Einrichtung von Naturschutzgebieten, weil ihre Landrechte und sie selbst als Indigene in vielen afrikanischen Staaten nicht anerkannt werden. Aus dem gleichen Grund fällt ihr Lebensraum oft ungestraft dem Kahlschlag zum Opfer. Aus ihrer Heimat vertriebene Angehörige des Waldvolks bilden eine neue, perspektivlose Unterschicht, die Sklavenhändlern und bis dato unbekannten Krankheiten oder Verführungen wie dem Alkohol weitgehend schutzlos ausgeliefert ist. Und auch die Bürgerkriege und Völkermorde in Zentralafrika haben vor ihnen nicht haltgemacht. Diskriminiert, marginalisiert und sogar von missverstandenem oder gar zweckentfremdetem „Naturschutz“ ihrer Lebensgrundlagen beraubt: All das ist ein Grund dafür, die Pygmäen als Gesamtheit der Waldvölker dabei zu unterstützen, ihre Rechte trotz ihrem geringen politischen und ökonomischen Einfluss durchzusetzen. Vor allem auch deshalb, weil die Regierungen der jeweiligen afrikanischen Staaten oftmals leider kein Interesse daran haben, das Waldvolk zu achten.