VOM JOACHIM SCHEUERER | 29.10.2013 15:52

Von der „Traumzeit“ zum Albtraum: die nicht endende Diskriminierung der Aborigines

Im Ursprungsmythos der Aborigines ist die Rede von einer sogenannten „dreamtime“, in der ein oder mehrere höhere Wesen die Grundordnung der Dinge, der Natur und der Menschen schufen. Diese Sichtweise umschließt die Zugehörigkeit des Menschen zur Natur, zu seinem Land und seiner Erde. Ihr Verfall ist auch der des Menschen, die Zerstörung seines Lebensraumes auch die seine. Auf Grundlage dieser Tradition lebten die halbnomadischen Nachfahren der ersten Siedler Australiens, Neu-Guineas und Tasmaniens, die Aborigines und die Torres-Strait Inselbewohner zwischen 40.000 und 60.000 Jahren, bevor sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts schlagartig und gewaltsam aus der Steinzeit in die vermeintlich zivilisierte Welt katapultiert wurden. Hiermit begann ein Albtraum, der trotz vereinzelter politischer Bewegungen im Kampf um Wiedergutmachung und Gleichstellung der Aborigines, bis heute anhält.

Krieg im Paradies


Am 29. April 1770 erreicht James Cook Australien. 18 Jahre später landet Kapitän Arthur Phillip mit einer Flotte erster Siedler, die sich überwiegend aus Kriminellen rekrutiert, an der australischen Südostküste und gibt den Startschuss für die Deportation 160.000 neuer Siedler in den darauffolgenden 80 Jahren.

Zeitgleich beginnt damit der lange Leidensweg der Aborigines, die zu ihren Hochzeiten an die 900.000 Menschen zählten, im Zuge eingeschleppter Epidemien, gezielter Unterdrückungen, Diskriminierungen, Zwangsassimilierungen, Enteignungen und Tötungen bis zum Jahre 1920 jedoch auf 60.000 Angehörige dezimiert wurden.

Die weitgehende offizielle Gleichberechtigung der Aborigines in den 60er Jahren samt Staatsbürgerschaft, Bürgerrechten, Wahlrecht, das Recht auf Heirat mit Weißen und den Erwerb von Immobilien sowie Lohnangleichungen hat jedoch wenig an den miserablen Lebensumständen und der faktischen Ausgrenzung der ca. 450.000 bis 600.000 Aborigines, die heute noch in Australien leben, geändert. Zu stark sitzt die Entwurzelung im Zuge der grausamen Kolonialisierung immer noch im kollektiven Gedächtnis der Aborigines, welche sich innerhalb der Reservate immer wieder symptomatisch in Apathie, Armut, Alkoholismus, Drogenmissbrauch, (sexueller) Gewalt u.a. an Kindern etc. Bahn bricht.

Fast jeder zweite Inhaftierte in Australien ist ein Aborigine und das obwohl jene weniger als 2 Prozent der australischen Gesamtbevölkerung ausmachen. Die Zahl der arbeitslosen Ureinwohner ist dreimal höher als jene der Weißen, dasselbe gilt für die Häufigkeit von Selbstmorden.

Der bis in die 70er Jahre hinein praktizierte Kindesraub, eindrucksvoll zu sehen in dem Film „Long Walk Home“, bei dem Aborigine-Kinder aus ihrem kulturellen Umfeld herausgerissen und von kirchlichen Einrichtungen und weißen Pflegefamilien zwangsadoptiert wurden, kehrt unter dem Vorwand der Sozialfürsorge heute vermehrt zurück. Bis zu 60 Kinder sollen der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ zufolge monatlich gegen ihren und den elterlichen Willen aus ihren Familien gerissen werden.

Und auch die bis in die 1920er Jahre hinein illegal praktizierten Treibjagden auf Aborigines tauchen heute im neuen Gewand vermeintlicher Bürgerwehren wieder auf und scheinen keine Einzelfälle zu sein.

Die erste offizielle Entschuldigung des 2008 noch amtierenden Premierministers Kevin Rudd, war ein wichtiger, wenn auch erstaunlich später Schritt in die richtige Richtung. Doch damit jene „Sorry-Rede“ nicht doch bloß als hohle Geste verpufft, bedarf es endlich wesentlicher Veränderungen im Umgang mit den geschichtlich bedingten Schwierigkeiten der Integration und/oder Koexistenz der Aborigines-Kultur wie z.B. gezielte infrastrukturelle Verbesserungen in den Reservaten in Sachen Nahrungs-, Wasser-, medizinischer und schulischer Versorgung, Betreuungs- und Beratungsangebote, sowie eine tatsächliche, statt einer rein theoretischen beruflichen Gleichstellung. Zudem müssen die großen Unterschiede zwischen der Hauptstadtpolitik und den oftmals rassistisch motivierten Alleingängen der Justiz in den ländlichen Territorien und Outbacks beseitigt werden.

Die heutige Armut der Aborigines basiert immer noch auf dem zivilisatorischen Armutszeugnis der westlichen Kolonialpolitik und liegt deshalb in hohem Maße, wenn auch nicht ganz allein, im Verantwortungsbereich der weißen Eroberer. Jener Verantwortung wurde bisher noch nicht in der gebotenen Konsequenz nachgekommen.