VON CLEMENS POKORNY | 21.10.2013 15:57

Jenische: Die Fahrenden

Kaum eine deutsche Minderheit steht so wenig im Licht des öffentlichen Interesses wie die Jenischen. Die neben den Sinti größte Gruppe unter den „Fahrenden“ in Mitteleuropa lebt heute nur noch zu rund 10% migrierend, die weitaus Meisten haben sich dauerhaft niedergelassen. Aber auch deren soziale Situation sieht oft schlecht aus: Überdurchschnittlich häufig sind Jenische von materieller und Bildungsarmut betroffen und werden bis heute diskriminiert und ausgegrenzt. UNI.DE beleuchtet ihre Geschichte.

Manche von ihnen „fahren“ noch heute, doch entgegen neueren Mythen, die sie selbst streuen, sind die Jenischen keine Ethnie wie die Sinti und die Roma. Ihre Geschichte beginnt um die Mitte des 17. Jahrhunderts, als zehntausende Menschen infolge des Dreißigjährigen Krieges Lebensgrundlage und Obdach verloren hatten. Sozial, ökonomisch und rechtlich marginalisiert zogen sie in familiären Kleingruppen durch Mitteleuropa und verdungen sich mehr schlecht als recht als Schausteller, Scherenschleifer, Korbflechter oder Lumpensammler. Auf ihren Wegen kamen sie mit ebenfalls zur Dauermigration gezwungenen Juden und Sinti, aber auch mit Vertretern der sogenannten Unehrlichen Berufe sowie mit wandernden Kriminellen in Kontakt. Sich selbst bezeichneten sie bald als „Jenische“, „die Wissenden“, nach dem Wort „džin“ für „wissen“ aus der Roma-Sprache (Romani oder Romanes). Auch sonst verdankt ihre Sprache, das Jenische, dem Romanes viel; ein Beispiel wäre der jenische Ausdruck „Bock haben“, der dem Roma-Wort „bokh“, „Hunger“, entlehnt ist.

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Ihre Sprache stellt das wichtigste Kulturgut der Jenischen dar. Sie umfasst, je nach Mundart und danach, ob auch Romani-Ausdrücke als jenische gezählt werden, 1200-1500 Wörter, vor allem konkrete Begriffe, und ist schon seit dem 19. Jahrhundert gut dokumentiert. Zu dieser Zeit wurden die Jenischen wie alle Fahrenden als grundsätzlich kriminell veranlagt diffamiert und selbst von der Wissenschaft so beschrieben. Ermittlungsbehörden legten Wörterlisten an, um die Fahrenden besser observieren und so angebliche Verbrechen verhüten zu können. Doch gerade in dieser Zeit begannen viele Jenische, sesshaft zu werden, was mit der Mitte des 19. Jahrhunderts in vielen mitteleuropäischen Staaten beschlossenen Freizügigkeit möglich wurde: Nun durfte sich jeder dort niederlassen, wo er geboren worden war oder einen längeren Aufenthalt nachweisen konnte. Freilich versuchten sowohl die betroffenen Gemeinden als auch die Alteingesessenen vor Ort, die Sesshaftigkeit der Jenischen zu verhindern, teilweise mit Gewalt. In der Schweiz kulminierten die fremdenfeindlichen Vorurteile gegen die Fahrenden noch im 20. Jahrhundert, als zwischen den 1920er- und den 1970er-Jahren vielen jenischen Familien ihre Kinder weggenommen und diese, vermeintlich zu ihrem Wohl, in „anständigen“ Schweizer Familien untergebracht wurden. Im Nationalsozialismus wurden die Jenischen zwar kaum in Arbeits- oder Vernichtungslager deportiert, aber unter dem sozialen Label „nach Zigeunerart Umherziehende“ massiv benachteiligt und als „Krankheitserreger“ am „deutschen Volkskörper“ betrachtet.

Doch trotz aller Diskriminierung und Verfolgung haben die Jenischen überlebt. In Deutschland gibt es nur noch wenige Fahrende unter ihnen; größere Gruppen haben sich im hessischen Gießen oder im bayerischen Ichenhausen angesiedelt. In der Schweiz dagegen wurden Jenische mit Schweizer Nationalität als nationale Minderheit anerkannt. Dort migriert noch etwa ein Achtel der schätzungsweise 20.000 Jenischen (Deutschland: max. 10.000); ihre Interessenvertretung, die „Radgenossenschaft der Landstraße“, wird vom Staat subventioniert. In Österreich wirkte Romed Mungenast als erster Hobby-Historiker und -Chronist der jenischen Geschichte und Kultur mit wissenschaftlichem Anspruch. Durch ihre Erforschung in den Fokus des öffentlichen Interesses geraten, bekennen sich heute viele Jenische gerne zu ihrer Familie und Kultur. Die Fahrenden unter ihnen bleiben wohl aber auch künftig (freiwillig) eine soziale Randgruppe mit einem entbehrungsreichen und im Verhältnis zu Anderen chancenungleichen Leben.