VON CLEMENS POKORNY | 14.10.2013 14:48

Sinti und Roma: Das stigmatisierte Volk

Die Sinti und Roma leben seit etwa 700 Jahren in Europa und erfahren von jeher Diskriminierung und Ausgrenzung. Aufenthaltsverbote und Vertreibungen ließen das Klischee von den fahrenden, diebischen Zigeunern entstehen. Mit der Wirklichkeit hat es nichts zu tun. Aber auch in unserer zivilisierten Welt des 21. Jahrhunderts werden Sinti und Roma marginalisiert und mit Vorurteilen konfrontiert.

Die Geschichte der Roma beginnt im 14. Jahrhundert in Indien: Dort vermutet die Wissenschaft die Ursprünge eines Volkes, das aus unbekannten Gründen relativ schnell nach Europa gelangte und seither dort vor allem im Osten und Südosten verbreitet ist. Auf ihrem Weg nahmen die Roma bleibende Einflüsse vor allem in ihre Sprache auf, doch ihre Kultur ist heute vor allem von derjenigen ihres jeweiligen Heimatlandes geprägt. Denn einen festen Wohnsitz haben die allermeisten: Das Klischee von den umherziehenden „Zigeunern“, als die die in West- und Mitteleuropa lebenden Sinti und die in Ost- und Südosteuropa verbreiteten Roma mehrheitlich nicht bezeichnet werden möchten, ist empirisch ebenso widerlegt wie das einer angeblich besonders hohen Delinquenz.

Menschenrechte in Europa

Insbesondere das erste Vorurteil teilen Sinti und Roma mit den Juden in Gestalt der antisemitisch konstruierten Figur des „Ewigen Juden“, der unsterblich durch die Welt ziehen muss, weil er Christus auf seinem Weg zur Kreuzigung verspottete. Auch sonst lohnt ein Vergleich der beiden Minderheiten: Beider Geschichte ist von Diskriminierungen und Verfolgung geprägt. Die Lüge von der genetisch oder archaisch-kulturell bedingten dauerhaften Migration der Roma mag in früher weit verbreiteten Aufenthaltsverboten ihren Ursprung haben und also durch die Verwechslung von Ursache und Wirkung entstanden sein. Menschen sowohl jüdischen Glaubens als auch der Ethnie der Sinti und Roma wurden von den Nazis systematisch ermordet. Ähnlich wie die Juden haben Sinti und Roma eine hohe (vermutlich sechsstellige) Opferzahl im „Porajmos“, dem Roma-Pendant zum Holocaust, zu beklagen. Während die jüdische Religionsgemeinschaft jedoch nach dem Ende der NS-Diktatur nicht zuletzt aufgrund ihrer guten Organisation einen eigenen Staat für sich bei den Vereinten Nationen durchsetzen und jahrhundertelanger Unterdrückung somit wenigstens in Israel ein Ende bereiten konnte, blieb die Lage der Roma und Sinti in Europa prekär.

Und in Rumänien, wo heute eine relative Mehrheit der weltweit sieben bis zehn Millionen Angehörigen der Ethnie lebt, nehmen gesellschaftliche Ausgrenzung und Verfolgung derzeit sogar noch zu. Im Jahr 2000 sprach sich dort in einer repräsentativen Umfrage jeder zweite Rumäne für eine staatlich kontrollierte Geburtenbeschränkung unter den Roma aus; „Zigeuner“ ist ein häufiges Schimpfwort. Roma-Kinder werden in Sonderschulen unterrichtet, ihre Familien sind auch heute noch Vertreibungen ausgesetzt. Im Zuge des Aufstiegs der Rechtsextremen in Ungarn häufen sich auch dort Diskriminierungen von Roma. In Deutschland gehören die ca. 70.000 Sinti und Roma neben Friesen, Dänen und Sorben seit Ende der 1990er-Jahre zu den vier nationalen Minderheiten; allerdings genießen nur die 40.000 bis 60.000 „Alteingesessenen“ unter ihnen den damit verbundenen Schutz ihrer Kultur. Seit 1982 vertritt der Zentralrat der Sinti und Roma in Deutschland die Interessen dieser Ethnie, deren bekannteste Angehörige hierzulande die Schlagersängerin Marianne Rosenberg sein dürfte.

Dass sie im Gegensatz zu Juden lange Zeit keine Interessenvertretung hatten, dürfte dazu beigetragen haben, dass Sinti und Roma in Deutschland auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch diskriminiert wurden – und werden: Denn die aus Osteuropa eingewanderten Armutsflüchtlinge unter ihnen stehen ja nicht unter Schutz, haben aufgrund der in ihren Heimatländern erfahrenen Benachteiligung besonders schlechte Startbedingungen für ein Leben in der Bundesrepublik und leben auch wegen der noch immer tief verwurzelten antiziganistischen Vorurteile in noch schlimmeren Zuständen als viele andere aus Osteuropa Zugewanderte. Alteingesessenen wie zugereisten Roma und Sinti könnte es sicherlich schon helfen, wenn im Geschichtsunterricht auf ihre jahrhundertelange Unterdrückung aufmerksam gemacht und etwaige Vorurteile abgebaut würden.