VON JOACHIM SCHEUERER | 01.10.2013 14:03

Die letzten Ureinwohner unserer Erde und der Fortschritt des Stillstands

Bis zu 5000 und auf 75 Staaten verteilte indigene Völker werden derzeit weltweit angenommen. Dies umfasst zwischen 350 bis 400 Millionen Menschen, von denen der NGO "Survival International" zufolge 150 Millionen in "Stammesgesellschaften" organisiert sind. Ungefähr 100 dieser Völker werden als isoliert und "unkontaktiert" eingestuft, d.h. sie haben keinerlei freiwilligen Kontakt zur vorherrschenden Mehrheitskultur ihres Territoriums. Wenn es doch zu Begegnungen kommt, so fallen diese häufig zum Nachteil der Ureinwohner aus. Der illegale Abbau von Rohstoffen wie Öl, Kohle, Holz, Gold etc., aber auch eingeschleppte Krankheitserreger stellen eine massive Bedrohung für den Lebensraum, die Kultur und das Überleben dieser Völker dar. Ihr Schutz ist dabei oftmals eine komplizierte Angelegenheit, vor allem wenn die (Noch-)Existenz eines Volkes erst einmal bewiesen werden muss.

Krieg im Paradies

2008 wurden im brasilianischen Grenzgebiet zu Peru ein paar der vermeintlich letzten unkontaktierten Indianer im Amazonas-Regenwald entdeckt. Die brasilianische Stiftung "Funai", welche um die Errichtung, Erhaltung und Verteidigung von Schutzgebieten für indigene Gruppen bemüht ist, konnte vom Flugzeug aus Fotos einer kleinen Indianersiedlung schießen. Beweise wie dieser sind dabei deshalb notwendig, weil es immer wieder Versuche von Seiten verschiedener Regierungen sowie Rohstoffkonzerne und -firmen gibt, die Existenz solcher Völker zu vertuschen oder zu leugnen, um an die natürlichen Ressourcen des Landes heran kommen zu können.

Auch der erfahrene Ethnomediziner Roland Garve berichtet von einer Kontakaufnahme mit den brasilianischen Korubos, welche die Errichtung einer Schutzzone für diese Indianer zum Ziel hatte. Nach wochelangem Suchen und dem Hinterlegen von Geschenken im Dschungel konnte tatsächlich Kontakt hergestellt und das Überleben, der verschwunden geglaubten Korubos dokumentiert werden.

Akut bedroht durch illegalen Raubbau, Rodungen, Siedler und Viehzucht sind derzeit trotz offizieller Schutzgebiete z.B. auch die ohne Kontakt zur Außenwelt und als nomadische Jäger und Sammler lebenden Awá-Indianer in Brasilien. In Fällen wie diesen kommt es leider auch immer wieder zu sexuellen Übergriffen auf Indianerfrauen bishin zu Verschleppungen und Morden.

Und auch weltanschauliche Ambitionen waren und sind teilweise immer noch das Motiv für ein fremdes Eindringen in das Gebiet indigener Gruppen. Als z.B. in den 70er Jahren die brasilianischen Zoé-Indianer, im Zuge eines Straßenbauprojektes unerwartet gesichtet wurden, woraufhin das Bauvorhaben sogar eingestellt wurde, sind sie trotz eines offiziellen Kontaktverbots seitens der Regierung Missionierungsversuchen zum Opfer gefallen. Dabei schleppten die Missionare, für die Zoé unbekannte Grippeviren ein, was letztendlich zu einer gravierenden Dezimierung der Zoé-Bevölkerung führte.

Aber auch im Falle einer Eingliederung in die jeweilige Mehrheitsgesellschaft sehen sich die Angehörigen und Nachfahren indigener Völker vielen Problemen ausgesetzt und verbleiben oftmals am Rande der Gesellschaft bishin zum Absturz in Armut und Alkoholismus.

Ob namibische Himba, westsibirische Chanten, chilenische Mapuche, australische Aborigines oder finnische Sámi. Sie alle waren oder sind nach wie vor konfrontiert mit Landenteignung, Zwangszivilisierung, Zerstörung und Verschmutzung ihres Lebensraumes, Rassismus, Tourismus usw., sowie den Folgen daraus.

Da verwundert es keineswegs, wenn sich einzelne Volksgruppen freiwillig in die Isolation begeben, um ihre Traditionen und Religionen sowie die eigene Gesundheit zu schützen.

Aktuell kämpfen auch die Rapanui, die polynesisch stämmigen Ureinwohner der Osterinseln, welche seit 1888 in chilenischer Hand sind, gegen den drohenden Ausbau der touristischen Infrastruktur ihres Landes und die Flut der Migranten vom chilenischen Festland, aus Angst vor der Zerstörung ihrer Traditionen. Dennoch sehen sich einige Rapanui auch angewiesen auf die chilenische Unterstützung im Bereich der Medizin, Ernährung, Elektrizität und in der Wasserversorgung.

Die Auseinandersetzung mit den Lebensweisen indigener Völker birgt produktive Perspektiven für den vermeintlich modernen Menschen. Zwar sollte man weder das Leben nach althergebrachten Traditionen naiv glorifizieren und romantisieren noch den modernen Lebensweg per se verteufeln. Doch wenn es eines gibt, was wir vom kulturellen Schatz indigener Völker lernen können, dann dass Stillstand nicht automatisch Rückschritt bedeutet und Fortschritt nicht ohne Weiteres mit gut gleichzusetzen ist. Etwas weniger Tempo könnte uns vielleicht dabei helfen unsere Fortschrittshysterie einmal mit anderen Augen zu betrachten.