VON JOACHIM SCHEUERER | 21.11.2013 15:02
Franz Kafkas "Der Prozess" und das Problem der sich "selbst erfüllenden Prophezeiung"
Wenige Romane besitzen eine solche Strahlkraft wie Franz Kafkas „Der Proceß“, was nicht zuletzt mit seiner schieren Uninterpretierbarkeit oder besser seiner schier unendlichen Interpretierbarkeit zusammen hängt. Nicht umsonst warnte Detlef Kremer vor der Spiegelhaftigkeit dieses Werkes, welches „genau jene Bildinhalte getreu, aber teilnahmslos zurückwirft, die man ihm anbietet“, weshalb vom Interpreten ein hohes Maß an „skeptischer Selbstdistanz“ sowie das Wissen um die „zeitliche Relativität“ der Textauslegung gefordert sei (Kremer, 1989). Genau hierin liegt jedoch auch die große Langlebigkeit dieses Romans begründet. Es scheint fast so, als hätte Kafka es geschafft eine menschliche Grundstruktur einzufangen, mit deren Hilfe man die unterschiedlichsten Zeitkontexte erfassen und reflektieren kann. So ist vor allem auch der darin verwobene Konflikt zwischen Emanzipation und Assimilation, Selbstbejahung und Selbstverneinung, sowie die Angst vor der eigenen Freiheit und der damit einhergehenden Verantwortung für sich selbst, wie eine Symptombeschreibung unserer heutigen Zeit und macht dieses Buch fast schon zur Pflichtlektüre für jeden, der seine „selbst verschuldete“ und sich wieder und wieder selbst erfüllende Unmündigkeit durchbrechen möchte.
Als biographischer Kontext und Auslöser des Schreibprozesses für diesen Roman, der in seiner heute bekannten Form letztendlich ein Herausgeberkonstrukt ist, welches der inhaltlichen und zeitlichen Wahrscheinlichkeit nach rekonstruiert wurde, da Kafka keine eindeutigen Hinweise über die Kapitelreihenfolge hinterließ, gilt die für Kafka einschneidende erste Trennung von Felice Bauer am 12. Juli 1914 in Berlin.
Kafkas schwieriges Verhältnis zu Frauen, der Liebe und Sexualität ist mittlerweile hinlänglich bekannt und immer wieder gern bemühter Gegenstand von Diskussionen und Interpretationen. Und es fällt auch nicht schwer, sich die düster-schmutzige und korrupt-käufliche Gerichtswelt des Prozesses als Metapher und Projektionsfläche für Kafkas Beziehungstraumata und -phobien vorzustellen.
Man denke nur an Kafkas „Brief an den Vater“ und die darin geschilderte Autorität des Vaters, die in ihrer Bedrohlichkeit an einen Richter und Henker erinnern lässt. Ebenso nahe liegt die Schuldthematik im Zusammenhang mit uneingestandenen oder ungelebten sexuellen Trieben und Begierden. Im Verlauf des Prozesses brechen jene sich mehr und mehr Bahn, wenn der Protagonist Josef K. nach anfänglicher Verurteilung der prostitutionsähnlichen Verhältnisse im Gericht selbst die Beherrschung gegenüber seinen Frauenbekanntschaften verliert. Die eigene Ähnlichkeit mit dem Gericht und eine eventuelle Schuld wird jedoch stets von sich geschoben. Josef K. kommt nicht über die Identifikation mit der Opferrolle hinaus.
Wie ein ins Unheil geworfener und überfallener Unschuldiger erscheint Josef K. bereits zu Beginn im allerersten, schon sehr bedeutungsschwangeren und berühmt gewordenen Satz: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Jenen Erkenntnisstand wird Josef K. zum eigenen sowie zum schwer aushaltbaren Leidwesen des Lesers den gesamten Prozess hindurch nicht mehr überschreiten. Es kommt zu keiner wirklichen Entwicklung, sondern zu einem Verharren vor der Erkenntnis, vor der Lösung, vor der Erlösung oder „Vor dem Gesetz“, so der Titel der bekannten in den Roman eingeflochtenen Parabel über einen Mann vom Lande, der vergebens bis an sein Lebensende darauf wartet, vom Türhüter Eintritt in das „Gesetz“ gewährt zu bekommen. Dem Glauben an die Rechtmäßigkeit oder zumindest Unveränderlichkeit der Verhältnisse, an die eigene Ohnmacht und Fremdbestimmung samt Verlust der eigenen Verantwortung kann sich Josef K. trotz einiger Zweifel, Hinweise von außen etc. nicht entziehen.
Will man biographisch argumentieren, schaffte Kafka es auch nie wirklich sich zu emanzipieren, sei es vom Vater oder der beruflichen Pflicht und sich zu sich selbst und seiner Berufung zu bekennen. Den Frauen fühlte er sich ausgeliefert, hielt jene für eine Gefahr für sein künstlerisches Schaffen. In der Konsequenz machte er nichts konsequent, lavierte stets hin und her zwischen den verschiedenen Fronten, ein Spielball der Angst und Zerrissenheit, unfähig zur Nähe noch zum Alleinsein.
Genau in dieser ängstlichen, autoritätsgläubigen und unentschiedenen Passivität liegt auch das große Reflexionspotenzial für unsere heutige Zeit begründet. Josef K. ist der äußerlich angepasste, dessen Anpassung zwar noch nicht gänzlich in Fleisch und Blut übergegangen ist, aber dennoch schon so weit, dass es zu keinem tatsächlichem Widerstand mehr kommt oder zum Mut eigene Entscheidungen zu treffen, sich überhaupt für etwas zu entscheiden. Stets wird die Entscheidung in der Hoffnung auf einen noch größeren Vorteil und eine noch bessere Ausgangslage hinausgeschoben.
Die unergründliche, oft irrationale und übermächtige Drohkulisse des Gerichtsapparats wird immer wieder bezweifelt, als falsch entlarvt und dennoch stets auch wieder bestätigt. Gleichzeitig wird die Verantwortung für das eigene opportunistische Kalkül, die mangelnde Moralität und die Schuld nach außen, an das Gericht abgegeben. Der Mensch ist hier lediglich Reaktion, nicht Aktion und entschuldigt seine Tatenlosigkeit mit der beängstigenden Macht der Außenwelt. Wie Kremer schon sagte, der Text ist ein Spiegel.
Kafka, Franz: „Der Proceß“.
S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, Juni 2008.
ISBN 978-3-596-18114-8, Taschenbuch. Preis € (D) 8,95
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