VON LISI WASMER | 02.11.2013 17:57

„Garp und wie er die Welt sah“ von John Irving

Ein uneheliches Kind einer Krankenschwester mit einem – zugegebener Maßen nur in geringem Maße beteiligten – schwer hirnverletzten Soldaten: Das ist T. S. Garp. So legt Irving den Grundstein für die Geschichte eines Schriftstellers, vom Anfang bis zum Ende, von der Kindheit bis zum Tod. Es ist eine Geschichte voller Absurditäten, voller Tragik und doch herzerwärmend menschlich. Eine Geschichte, die in keine Jahreszeit besser passen würde als in den Herbst, wo die Blätter fallen, die Tage kürzer werden und man nur aus dem Fenster sehen muss, um sich seiner eigenen Vergänglichkeit bewusst zu werden. Denn „in the world according to Garp, we are all terminal cases“.

John Irving schreibt gerne ausführlich. Über 800 Seiten umfasst auch sein vierter Roman „Garp und wie er die Welt sah“. Aber John Irving schreibt nicht einfach nur dicke Bücher. John Irving schreibt Welten. So wie Garp sie sieht ist es eine Welt feministischer Aktivistinnen, großer Tragik und dem Bedürfnis nach Sicherheit. Gehaltvolle Themen werden hier berührt: Liebe, Sexualität, Tod. Dabei verzichtet Irving auf den mahnenden Zeigefinger und reichert stattdessen teils bizarre Begebenheiten mit einer Tiefgründigkeit an, die den Leser am Ende nie unberührt zurücklässt, vielmehr nachdenklich, mit der Gewissheit, gerade mal wieder ein wirklich gutes Buch gelesen zu haben.

Vom Bastard zum Bestseller

Als die feministische Krankenschwester Jenny Fields während des zweiten Weltkriegs ein Kind möchte, nicht aber den dafür notwendigen Mann, behilft sie sich mit einem schwer hirnverletzten Soldaten. Das Ergebnis: T. S. Garp, benannt nach seinem Vater, Bastard mit zwei Initialen, aber keinem Vornamen (Die Buchstaben waren auf die Uniform des Soldaten gestickt und stehen für „Technical Sergeant“). Der Junge wächst in Neuengland unter dem Einfluss seiner außergewöhnlichen Mutter heran, die bald als Aktivistin der Frauenrechtsbewegung berühmt wird. Er ringt für seine Schule, verliebt sich in die büchervernarrte Tochter des Trainers, Helen, und will Schriftsteller werden.

Nach der Veröffentlichung seiner ersten Kurzgeschichte heiratet er seine Jugendliebe, sie bekommen zwei Kinder. Die Ehe ist nicht gerade als traditionell zu beschreiben. Einen ersten Bruch beschreibt der Partnertausch mit einem befreundeten Ehepaar, als weitaus gravierender stellt sich später die Affäre Helens mit einem ihrer Studenten heraus: Durch einen unglücklichen Auffahrunfall wird sie schwer verletzt, ihr Liebhaber verliert seinen Penis, ihr jüngster Sohn stirbt. Später fällt Garps Mutter einem Mordanschlag zum Opfer, ihre Stiftung zur Unterstützung unterdrückter und benachteiligter Frauen wird von ihm weitergeführt. Garp arbeitet erfolgreich als Schriftsteller, bis er von einer Feministin ermordet wird, die ihn fälschlicherweise für den Tod ihrer Schwester verantwortlich macht.

Vom Roman in die Wirklichkeit

Soweit die Geschichte. Was hier fehlt, sind die kunstfertig ausgearbeiteten Nebenfiguren wie etwa der transsexuelle ehemalige Footballspieler Roberta Muldoon oder die Frauenrechtsaktivistinnen, die sich „Ellen Jamesianerinnen“ nennen und sich die Zunge abtrennen lassen, in Anlehnung an das Vergewaltigungsopfer Ellen James. Es fehlen die zahlreichen Kurzgeschichten und Erzählungen, die Irving in den Roman einbettet, scheinbar als Entschlüsselungshilfe für Garps Innenleben. Und es fehlen die vielen Einzelheiten, in denen Irving mit beeindruckendem Fingerspitzengefühl sozialpolitische und realpsychologische Themen kommentiert.

Offensichtlich wird seine Einstellung zur Frauenrechtsbewegung: Den unabhängigen, aktiven Protagonistinnen stehen die eher passiv-anklagenden Ellen Jamesianerinnen gegenüber. Ebenfalls vordergründig ist seine Beschäftigung mit dem Tod. Allein in einer der im Buch abgedruckten Kurzgeschichten Garps müssen sieben der neun Charaktere ihr Leben lassen. Ohne eine eindeutige Stellungnahme stellt Irving den Tod als ultimatives Zeugnis der Endlichkeit dem menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit gegenüber. So beschreibt er Garp nicht zuletzt auch als übertrieben beschützenden Vater, dessen Sorge um seinen kranken Sohn ironischerweise letzten Endes auch den oben beschriebenen Autounfall zur Folge hatte.

Das ist das Können des John Irving: Nicht nur Figuren, sondern den Menschen zu beschreiben. Seine Schwächen und Ängste aufzuzeigen, indem er in seinen Romane Unerhörtes geschehen lässt; mit einer Nüchternheit, die selbst eine skurrile Welt wie die von Garp in die Realität versetzen kann.

Irving, John: „Garp und wie er die Welt sah“
Verlag Diogenes . Zürich, 2012, 839 S.
ISBN 978-3257068153 geb. Preis € 26,90