Hesses Roman ist im deutschen Mittelalter angesiedelt und beginnt mit einer Beschreibung des Klosters Mariabronn. Hier begegnen sich eines Tages der junge hitzköpfige Schüler Goldmund, von seinem überforderten Vater in das Kloster quasi „abgeschoben“, und der Lehrgehilfe Narziß. Die Begegnung der Protagonisten wird für die beiden jungen Menschen zu einem prägenden Erlebnis, denn beide erkennen in dem jeweils anderen ihren Gegenpol. So ist Narziß gelehrig und fromm und steigt, aufgrund seiner besonderen Begabungen und seiner Beliebtheit bei den übrigen Klosterbewohnern, schnell in der Kirchenhierarchie auf, während Goldmund seine Zeit lieber beim Kräutersammeln auf dem Feld oder bei nächtlichen Ausflügen in die nahen Dörfer verbringt. Obwohl sie also unterschiedlicher nicht sein könnten, entwickelt sich zwischen den beiden Protagonisten eine tiefe und bedeutende Freundschaft, die für die ganze Erzählung bestehen bleibt.
Während eines Gesprächs mit Goldmund deckt Narziß, der hier beinahe die Rolle eines Psychoanalytikers übernimmt, einen verdrängten Teil von Goldmunds Vergangenheit auf, das Bild seiner früh verstorbenen Mutter. Tief erschüttert von dieser Erfahrung macht Goldmund sich bald darauf auf den Weg, dieses Bild zu finden. Die Suche nach der Mutter wird für Goldmund zu einer Reise zu sich selbst. Als Vagabund zieht er durch das mittelalterliche Deutschland. Er findet und verliert die Liebe, wird zum Künstler, zum Lehrer und zum Verbrecher, erlebt die Pest und kehrt schließlich, nach vielen Jahren der Wanderschaft, in das Kloster zurück, wo er auch seinem Jugendfreund Narziß wieder begegnet, der mittlerweile Priester geworden ist. Seine letzten Jahre verbringt Goldmund bei seinem Freund im Kloster, wo er als Kunsthandwerker tätig wird. Schließlich stirbt er an der Seite Narziß'.
Die Erzählung ist ganz durchdrungen vom Geist der Individualität. Schon in den Charakteren der beiden namengebenden Protagonisten ist das angelegt: Narziß, der Denker und Geistesmensch, der sein ganzes Leben hinter den Klostermauern verbringt, wird dem weltlichen Sinnesmensch Goldmund gegenübergestellt, der, dem mütterlichen Prinzip folgend, das Leben und die Liebe am eigenen Leib erfahren will. Ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht trennt die beiden Freunde voneinander, dennoch ist keiner dem anderen überlegen, kein Lebensstil dem anderen vorzuziehen. Beide kämpfen mit ihren Dämonen und erfahren Glückseligkeit auf ihre jeweils eigene Weise. Goldmund sprengt die Ketten, die ihm das zwanghafte Klosterleben aufzwingt und versucht, seine persönliche Erfüllung in der weiten Welt zu finden. Narziß dagegen nimmt die Ketten dankbar an und trägt sie wie Schmuck, findet sein Heil in Askese und Frömmigkeit.
Hesses Erzählung, wie sein ganzes literarisches Werk, ermutigt junge Menschen dazu, einen persönlichen Lebensweg zu finden. Ob es sich dabei um eine Frau handelt, die ihren Ehemann nicht verlassen will, obwohl er sie misshandelt, um einen fröhlichen Vagabunden, der stehlen und morden muss, um sein Überleben zu sichern, oder um junge Schwestern, die mit ihren Gefühlen und ihrer sexuellen Orientierung ringen. Das Leben jeder handelnden Figur wird nüchtern und wertfrei geschildert, nichts ist ein Verbrechen, keine Entscheidung falsch. Am Ende bleibt das einzige Eichmaß die Individualität. Nur vor sich selbst muss der Mensch sich verantworten, diese einfache Botschaft schwingt auf jeder Seite des Romans leise mit und macht Narziß und Goldmund, wie ich finde, zu einer wichtigen Lektion für jeden jungen Menschen.
Hesse, Hermann: „Narziß und Goldmund. Erzählung“
Suhrkamp. Frankfurt am Main, 1975. 305 S.
ISBN 3-518-36774-9, Taschenbuch. Preis. 9,00 €