VON MAXIMILIAN REICHLIN | 12.10.2016 16:15

Flüchtlingskrise – Reiche Länder stehlen sich aus der Verantwortung

Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International klagt die reichen Länder der Welt an, nicht genug für Asylsuchende zu unternehmen. Zu viele Flüchtende seien demnach in armen Ländern untergebracht, die die Last kaum tragen könnten. Vor allem die EU solle demnach weniger auf die Schließung der Grenzen und die Ausdünnung von Flüchtlingsströmen setzen, als vielmehr auf die Schaffung sicherer Reiserouten und Unterbringungsmöglichkeiten. Ein gerechter Verteilungsschlüssel könnte das Problem lösen und dafür sorgen, dass sich das Leben der Flüchtenden verbessert – Europa zeigt sich jedoch weiterhin unwillig. Einzig Deutschland wird im Amnesty-Bericht lobend erwähnt.


Die reichen Länder der Welt tun nicht genug, um die Flüchtlingskrise unter Kontrolle zu bekommen. Das geht aus einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International hervor, der sich auf offizielle Zahlen der Vereinten Nationen stützt. Demnach landen aktuell rund 86 Prozent der weltweit 21 Millionen Flüchtenden in Ländern mit mittlerem oder niedrigem Einkommen, mehr als die Hälfte der Asylsuchenden ist auf nur zehn Länder verteilt: Jordanien, die Türkei, Pakistan, der Libanon, Iran, Äthiopien, Kenia, Uganda, die Demokratische Republik Kongo und der Tschad.

Reiche Länder müssen mehr für Asylsuchende tun

„Eine kleine Zahl von Staaten trägt eine viel größere Last, nur weil sie Anrainer eines Krisengebiets sind“, macht Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty seinem Ärger Luft. „Diese Verteilung ist offenkundig nicht nachhaltig und sie setzt Millionen, die vor Krieg und Verfolgung aus Ländern wie Syrien, dem Südsudan, Afghanistan oder dem Irak fliehen, unerträglichem Elend und Leid aus.“ Der Bericht klagt die reichen Länder der Welt an, sich aus der Verantwortung zu stehlen, während die zehn genannten Länder, die zusammen nur rund 2,5 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung erbringen, einer enormen Belastung ausgesetzt werden. Alleine der Flüchtlings-Spitzenreiter Jordanien habe bereits 2,7 Millionen Asylsuchende aufgenommen.

Es fehle vor allem an finanzieller Beteiligung, am Angebot von Umsiedlungsplätzen für die Asylsuchenden sowie an sicheren Reiserouten. Ganz besonders schlecht schneidet für Amnesty die EU ab: „Im Angesicht von hunderttausenden von Asylsuchenden und Flüchtlingen, die gefährliche Reisen auf sich genommen haben um sich in Sicherheit zu bringen, ist es der EU und ihren Mitgliedstaaten nicht gelungen, eine einheitliche, menschliche oder respektvolle Lösung zu finden“, heißt es im Report. Die einzigen politischen Schritte, zu denen die EU-Staaten sich in der Flüchtlingskrise haben durchringen können, seien ausschließlich dazu gedacht gewesen, Flüchtlingsströme auszudünnen und die „Festung Europa“ für ankommende Asylsuchende zu schließen – beispielsweise durch die Schließung der Balkanroute.

Gezielte Menschenrechtsverletzungen zur Abschreckung von Asylsuchenden

Gleichzeitig ist im Amnesty-Bericht auch von gezielter Abschreckung von Flüchtenden die Rede. Als Beispiele dieser „Politik der Abschreckung“ tauchen im Report die gewaltsamen Grenzschließungen in diversen Balkanstaaten sowie die umstrittene Meeresrettungsmission „Triton“ auf. Aufgrund der verfehlten Rettungsoperationen sollen mehr als 4.000 der Flüchtenden, die von Libyen oder Somalia nach Europa einreisen wollten, im Mittelmeer ertrunken sein, so Amnesty. Die Menschenrechtsorganisation ruft daher zur Schaffung von sicheren Routen auf. Lobend erwähnt wurden im Amnesty-Bericht indes Kanada und Deutschland, letzteres als einzies EU-Land. Beiden Ländern bescheinigt die Organisation, sich der Verantwortung zu stellen und angemessen auf die Krise zu reagieren.

Menschenrechte in Europa

Könnte ein fairer Verteilungsschlüssel die Lösung sein?

Die Lösung der Problematik könnte laut Amnesty ein weltweiter Verteilungsschlüssel sein, der auch das reiche Europa und andere wohlhabende Länder stärker in die Verantwortung nehmen soll. Dieser soll auf objektiven Kriterien wie der Bevölkerungsgröße, der Arbeitslosenquote und dem Bruttoinlandsprodukt basieren. Als Beispiel für die aktuelle Ungerechtigkeit der Verteilung dienen Neuseeland und Irland: Beide Länder weisen in etwa die gleiche Bevölkerungszahl auf wie der Libanon, sind allerdings größer und haben ein weitaus höheres Wirtschaftswachstum. Dennoch haben Neuseeland und Irland zusammen nur rund 1.000 syrische Asylsuchende aufgenommen, der Libanon dagegen über eine Millionen.

Ein weltweiter Verteilungsschlüssel, wie Amnesty International ihn vorschlägt, würde dazu führen, dass Neuseeland rund 3.500 Asylsuchende zugewiesen würden – eine „handhabbare Zahl“, so der Bericht. Auch für Europa gibt es bereits einen Plan: So sollen in den kommenden zwei Jahren mindestens die rund 1,5 Millionen am stärksten bedrohten Flüchtenden untergebracht werden, etwa 300.000 davon in der EU. Ob es dazu kommen wird, ist allerdings fraglich: Alleine die durch die EU-Kommission geplante Verteilung von 120.000 Asylsuchenden aus Ungarn, Griechenland und Italien auf die restlichen Mitgliedsstaaten ist stark umstritten.

Amnesty ruft zum Handeln auf

Auf der letzten Seite ruft der Amnesty-Bericht noch einmal alle Länder der Welt dazu auf, etwas an den gegebenen Umständen zu ändern: „Wenn alle – oder die meisten – Länder der Welt bereit wären, die Verantwortung zu teilen und Asylsuchende aufzunehmen, wäre kein Land überfordert und das Leben der Flüchtenden würde sich signifikant verbessern.“ Ein schöner Traum, der allerdings bereits jetzt an den Mauern der „Festung Europa“ zu zerschellen droht.