VON CHARLOTTE MEYER | 17.09.2015 13:37

Die Tragweite des Krieges - Ärzte ohne Grenzen

Der Krieg in Syrien dauert an. In Europa macht er sich vor allem durch den großen Zustrom an Flüchtlingen aus dem Kriegsgebiet bemerkbar. Doch verkommt der Krieg in der Berichterstattung meist zu einer abstrakten Ansammlung von Opfer- und Fliehendenzahlen. Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ startete ein Projekt, das die Auswirkungen des Kriegs aus der menschlichen Perspektive verdeutlichen sollte. Warum die Organisation so wichtig für die Information der Öffentlichkeit ist und wie sie sich in der Kriegsregion engagiert, schildert UNI.DE.



Krieg in Syrien

Seit mittlerweile viereinhalb Jahren tobt der Bürgerkrieg in Syrien. Was mit friedlichen Protesten im Zuge des Arabischen Frühlings Anfang 2011 begann hat sich mittlerweile in einen Kampf um ethnische und religiöse Vorherrschaft umgewandelt. Das ursprüngliche Ziel der Opposition, eine Demokratisierung des Landes zu erreichen, ist in weite Ferne gerückt. In den vier Jahren des Konflikts sind laut den Vereinten Nationen 220.000 Menschen ums Leben gekommen und 11,6 Millionen Syrer geflohen. Davon 7,6 Millionen im Inland und mindestens vier Millionen haben Syrien verlassen. Längst hat die Zahl der geflüchteten Personen damit – andere Konflikte mit einberechnet – weltweit einen nie gekannten Höchststand erreicht. Die Zahlen sind auf eine traurige Art beeindruckend, doch bleiben sie abstrakte Ziffern und sagen doch nichts über das Leid der Menschen aus, die unter dem Krieg und der Flucht leiden. Mit dem Projekt „The Reach of War“ oder „Die Tragweite des Krieges“ hat die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) Ende 2013 einen Versuch gestartet, die Auswirkungen des Krieges in Syrien verständlicher zu machen. Dafür hat die Organisation Material in ihren Hilfsprojekten im Irak, im Libanon und in Jordanien gesammelt und dabei persönliche Berichte ihrer Mitarbeiter zur Situation vor Ort aufgezeichnet.

Medizinische Hilfe weltweit

Ärzte ohne Grenzen agiert heute weltweit und ist ein Netzwerk aus 24 nationalen und regionalen Mitgliedsverbänden, die durch eine einheitliche Charta verbunden sind. Der deutsche Verband existiert seit 1993 als gemeinnütziger Verein und hat sich wie die anderen Verbände zum Ziel gesetzt, medizinische Hilfe unabhängig von religiöser, politischer und ethnischer Herkunft der Patienten zu leisten. Dies betrifft vorrangig Länder, in denen das Leben von Menschen durch natürliche Katastrophen, Epidemien oder Konflikte bedroht ist. Die Hilfeleistung ist dabei ganz unterschiedlich: MSF führt Impfkampagnen durch, leistet Basismedizin oder chirurgische Nothilfe und bietet Fortbildungen für lokale Mitarbeiter an. Neben der medizinischen Arbeit bietet die Organisation außerdem Unterkünfte oder allgemeine Hilfsgüter an, wenn dies für das Überleben von Menschen erforderlich ist. Eine weitere, aber nicht zu vernachlässigende Aufgabe hat sich Ärzte ohne Grenzen noch zum Ziel gesetzt: auf die Lage von Menschen in Not öffentlich aufmerksam zu machen. Hier erfüllt die Organisation eine enorm wichtige Aufgabe, denn als unpolitische und medizinische Hilfsorganisation erhält sie Einblicke, die andere nicht sehen können oder ihnen verwehrt bleiben. So meldete MSF beispielsweise im August, dass in einer Klinik in Aleppo vier Menschen mit Symptomen, die auf den Einsatz von Giftstoffen hinweisen, behandelt wurden. Der Einsatz von chemischen Waffen stellt indes einen schweren Bruch des internationalen humanitären Völkerrechts dar und der Programmverantwortliche von MSF für Syrien appellierte im Folgenden an alle Konfliktparteien, die wahllose Gewalt gegen Zivilisten zu stoppen. Im Rahmen des Auftrags der öffentlichen Aufklärung steht darüber hinaus das Projekt „Die Tragweite des Krieges“, das der Darstellung des Krieges in Zahlen ein menschliches Bild entgegen setzen soll.

Engagement in der Kriegsregion

Dabei zeichnet sich ein schreckliches Bild ab. Nicht nur Patientinnen und Patienten sind in der Kriegsregion Flüchtlinge, sondern auch die Ärztinnen und Ärzte selber. In Syrien selbst betreibt MSF sechs medizinische Einrichtungen und bietet mehr als 100 Krankenhäusern, provisorischen Kliniken und Gesundheitsposten Unterstützung an. Aber genauso engagiert sich die Organisation in den Nachbarländern Jordanien, Libanon, Irak und der Türkei und bietet dort syrischen Flüchtlingen medizinische Hilfe an. Auf diese Weise ist die Organisation theoretisch in der Lage, ein umfassendes Bild über den Krieg abzuliefern – wenn das ihre allerwichtigste Aufgabe wäre. Mit dem Projekt ist indes ein Versuch gestartet worden, den unübersichtlichen Konflikt durch Momentaufnahmen darzustellen und an mehr humanitäre Unterstützung zu appellieren.

Frieden schaffen ohne Waffen!

Anfangs Schussverletzungen und Granatsplitterwunden

In Syrien versuchte Ärzte ohne Grenzen unmittelbar nach Ausbruch des Kriegs eine Bewilligung der Regierung für ihren Einsatz im Land zu erhalten. Nachdem dies gescheitert war, wurden Projekte in den von der Opposition kontrollierten Gebieten, vor allem in Nordsyrien, gestartet. Da Krankenhäuser und Pflegekräfte oft selbst zur Zielscheibe wurden, mussten Feldspitäler in Wohnungen, auf einer Hühnerfarm und sogar in einer Höhle eingerichtet werden. Auch wurden mehrere Krankenhäuser und Gesundheitszentren mit Materialspenden versorgt. Die allergrößte Herausforderung allerdings war, sichere Standorte zu finden, wo sowohl Patientinnen und Patienten als auch Mitarbeitende vor Angriffen geschützt waren. Die Konfliktparteien verstanden außerdem oftmals nicht, dass MSF eine unpolitische Organisation ist. So musste immer wieder erklärt werden, dass ihre medizinische Unterstützung unparteiisch, unabhängig und privat finanziert ist. Im Laufe des Einsatzes wurden die Hilfsprogramme fortwährend an die neuen Bedürfnisse vor Ort angepasst. Während am Anfang die Behandlung von Kriegsverletzten mit Schussverletzungen, Granatsplitterwunden und durch Bomben verursachte Verbrennungen im Vordergrund standen, rückten im Laufe der Zeit Bedürfnisse in den Vordergrund, die der generell mangelnden, gesundheitlichen Versorgung geschuldet waren: Die Behandlung von Bluthochdruck, Diabetes oder Impfungen. Nach wie vor ist die Sicherheitslage prekär, jedoch versucht MSF, die Einsätze auszuweiten und anzupassen, damit so viele Patienten wie möglich behandelt werden können.

Einsatz in den Nachbarländern

Auch in den Nachbarländern ist die Organisation sehr aktiv, um auch den zahlreichen Geflohenen Unterstützung anzubieten. So gibt es in Jordanien, in Ramtha, unweit der syrischen Grenze ein Spital, in dem mehrmals täglich Verwundete und Schwerverletzte aus dem Nachbarland ankommen. Die Arbeit ist kräfteraubend für die Mitarbeitenden, aber die Erkenntnis, dass er eigene Einsatz lebenswichtig ist, ist etwas Einzigartiges, wie der Chirurg Dr. Haydar Alwash von Ärzte ohne Grenzen vor Ort berichtet. Im Irak hingegen schien es lange Zeit undenkbar, dass dieses kriegsgeplagte Land einst selbst ein Zufluchtsort werden könnte. Viele Syrer fühlen sich jedoch im Irak sicherer als in ihrer eigenen Heimat. Im Nordirak, in Domiz, betreibt Ärzte ohne Grenzen ein Krankenhaus, in dem anfangs medizinische Grundversorgung gewährleistet, psychologische Betreuung angeboten und Notfallüberweisungen organisiert wurden. Mittlerweile gibt es jedoch auch Versorgung für chronische Krankheiten. Die psychologischen Mitarbeitenden von MSF vor Ort halten sieben bis neun Sprechstunden täglich ab, um die psychischen Auswirkungen des Krieges zu kompensieren. Erwachsene leiden hier oft unter Depressionen und Angstzuständen, während es bei den Kindern Albträume, Schlafstörungen und Bettnässen sind. Der Anteil von schweren Störungen bei den psychisch betreuten Patientinnen und Patienten war 2013 auf 15 Prozent angestiegen. Im Libanon hält Ärzte ohne Grenzen insgesamt vier Krankenhäuser und im Gegensatz zum Irak existieren hier keine organisierten Flüchtlingslager und so gibt es im Libanon keine Zielorte, die die Fliehenden aus Syrien ansteuern könnten. Das Land selbst ist klein mit nur 4,4 Millionen Einwohnern bei mehr als einer Million Flüchtlingen. Dass es keine festgelegten Lager für Flüchtlinge gibt, sorgt immer wieder für Konflikte, da die Fliehenden bei der Suche nach Unterkunft jedes brauchbare Obdach in Anspruch nehmen. Viele wissen auch gar nicht, wo sie medizinische Hilfe bekommen können und deshalb gehen Mitarbeitende von MSF immer wieder in Siedlungen, um Hilfe zu leisten, wo sie benötigt wird.

Humanitäres Sprachrohr der Flüchtlingskrise in Europa

Doch auch in Europa sind die Auswirkungen des Kriegs in Syrien zu spüren. Die unzähligen Flüchtlinge aus dem Land sind mittlerweile über das Mittelmeer oder den Balkan in der EU angekommen. Ihre Flucht nach Europa hat unterschiedliche Gründe: Einerseits ist im Sommer die Flucht über das Mittelmeer und übers Land weniger riskant als im Winter. Andererseits fliehen viele junge Männer vor der Wehrpflicht in Syrien, sowie vor dem Vormarsch des IS. Der Hauptgrund für Flucht ist jedoch meist die Perspektivlosigkeit, die durch die vielen Kriegsjahre in der Region in den Köpfen der Menschen entstanden ist. Vor allem über soziale Netzwerke gelangen Bilder von bereits im Westen Angekommenen in die Region und motivieren viele, den gleichen Weg anzutreten. Zunehmend werden die sozialen Medien aber auch Werkzeug von Schleppern, die Profit aus den Flüchtenden schlagen wollen. Sie schalten dort beispielsweise Anzeigen für den Transport nach Europa und teilweise werden sogar gezielt Gerüchte über ein besseres Leben im Westen verbreitet, um Leute zur Flucht zu bewegen. Ärzte ohne Grenzen indes ist mittlerweile in vielen Flüchtlingsunterkünften auch in Europa präsent und prüft die Lebensbedingungen vor Ort. So kritisierte die Organisation etwa fehlende legale Fluchtwege nach Europa und die sehr schlechten Aufnahmebedingungen in Griechenland. Auch behandelte Ärzte ohne Grenzen durch Blendgranaten Verletzte an der griechisch-mazedonischen Grenze. In Calais, wo sich ein Flüchtlingscamp am Übergang zu Eurotunnel gebildet hat, hat MSF eine halb-permanente Basis aufgebaut. Viele Flüchtende versuchen hier, auf Lastwagen oder Züge aufzuspringen, die durch den Tunnel nach Großbritannien fahren und verletzen sich dabei zum Teil schwer. In Österreich bemängelte die Organisation darüber hinaus die Aufnahmebedingungen im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen und beschrieb etwa die sanitären Anlagen als „unmittelbar gesundheitsschädigend“. Ärzte ohne Grenzen ist so nicht nur ein Sprachrohr im direkten Konfliktgebiet, sondern auch an Orten in Europa, die auf den ersten Blick nicht wie Krisengebiete erscheinen. An erster Stelle steht der Mensch.