VON CLEMENS POKORNY | 30.06.2014 11:55

Gekommen, um zu gehen? Die Flüchtlinge vom Oranienplatz

„,Warum sind Sie aus Ihrem Land geflohen?‘ Das ist die unfruchtbare Frage der Engstirnigen. Warum flieht man aus seinem Land? Die Sehnsucht nach seiner Erde reicht einem bis an die Knochen, die Schönheit der Sprache – warum flieht man sie? ...“ (Cengiz Dogu, türkischer Lyriker aus Dachau)


Bis April 2014 kampierten 326 Flüchtlinge auf dem Berliner Oranienplatz und protestieren damit gegen den menschenunwürdigen Umgang mit Migranten in Europa. Der Senat tut sich mit ihnen schwer, die Integrationssenatorin machte ihnen das für viele unzureichende Angebot, jeden einzelnen Fall wohlwollend prüfen zu lassen, wenn sie das Camp räumten (UNI.DE berichtete). Schließlich räumten sie ihre Hütten – nicht immer freiwillig – und wurden in Notunterkünften untergebracht. Nur eine kleine Gruppe von ihnen hält noch immer Mahnwachen auf dem Oranienplatz ab. Das ist auch nötig, denn die Politik war kurz davor, ihr zentrales Versprechen zu brechen: Einem 27-Jährigen aus Niger drohte Mitte Juni die Abschiebung, nachdem er Berlin kurzzeitig verlassen hatte, um seine Duldung in Sachsen-Anhalt zu verlängern. Die Behörden argumentierten, die Zusage der Nichtabschiebung gelte nur für Berlin. Mittlerweile wurde der Mann aus der JVA in Volkstedt entlassen und ist wieder in Berlin, nachdem die Abschiebehaft gerichtlich beendet wurde – nicht aber die Abschiebeverfügung.

Aus der Hölle in die Hölle: Asylsuchende in der EU

Doch seine Mitstreiter könnten vom gleichen Schicksal betroffen sein. Ohne Unterstützung seitens der Politik drohe 80% der Flüchtlinge die Abschiebung, etwa weil sie über sichere Drittstaaten eingereist sind und Aufenthaltstitel z.B. in Italien haben, warnt der Berliner Flüchtlingsrat. Doch auch die Sympathisanten des Protests auf dem Oranienplatz wissen, dass das Thema Migration nur europaweit gelöst werden kann. Folgerichtig verwahren sich die Berliner Politiker gegen die Besetzung des Platzes, die sie als Versuch ansehen, den Staat zu erpressen. Deshalb, und auch, um die Protestierenden nicht gegenüber gewöhnlichen Migranten zu bevorzugen oder Präzedenzfälle zu schaffen, gehen sie auf deren Kernforderungen (Aufhebung der Residenzpflicht, Abschaffung der Asylbewerberlager, Arbeitserlaubnisse) gar nicht ein.

Ausländerfeindliche Berliner versuchen derweil, Fakten zu schaffen: Kurz nach der Rückkehr des Nigrers nach Berlin zündeten Unbekannte nachts das Veranstaltungszelt der Demonstranten an, irgendwann während der wenigen Stunden ohne Polizeipräsenz. Ohne weitere Unterstützung sieht es nicht so aus, als ob sich der Protest auf dem Oranienplatz dauerhaft halten könnte, nachdem schon seit April keine Hütten mehr dort stehen. So entledigt sich der Staat fast geräuschlos eines Protests gegen den Umgang mit Flüchtlingen in ganz Europa, der als solcher grundsätzliche außenpolitische Doktrinen in Frage stellt. Doch der Marsch der Protestierenden von Würzburg nach Berlin und ihr Ausharren auf dem Oranienplatz war nicht umsonst: Sie haben mindestens das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Flüchtlingsproblematik vergrößert, wie Juliane Schumacher von der „taz“ meint.

Dabei steht die Diskussion um Migration nach Europa noch am Anfang, wenn man bedenkt, dass insbesondere hunderttausende Afrikaner an die nördlichen Küsten des Schwarzen Kontinents drängen. Doch es gibt schon erste Gegenbewegungen von Menschen, die desillusioniert aus Europa zurückkehren, ihre Landsleute vor den Gefahren und Strapazen der Reise warnen und versuchen, sie dazu zu bewegen, in ihrer Heimat zu bleiben. Denn was passiert, wenn die Jugend und die Intelligenz ein Land verlässt, lässt sich seit 1990 schon bei uns in Ostdeutschland beobachten: Genauso wird auch Afrika seine Armut und Korruption nicht dadurch überwinden können, dass alle, die das Potenzial zur Veränderung haben, den Kontinent verlassen – viele auf dem Oranienplatz kamen bereits mit einer guten Ausbildung nach Europa. Aber wer künftig aus welchen Gründen auch immer seine Heimat verlässt, muss darauf zählen können, in der Fremde menschenwürdig behandelt zu werden.