VON CLEMENS POKORNY | 29.12.2013 15:53

Krank durch Chemo: Überdiagnosen bei Krebs

Krebsvorsorge soll vor einer lebensbedrohlichen Krankheit bewahren – doch gerade durch den medizinischen Fortschritt geschieht oft das Gegenteil. Bei manchen Krebsarten wird in über der Hälfte der Fälle aufgrund von zu genauen Untersuchungsmethoden (!) eine Erkrankung diagnostiziert, die nie da war oder zumindest nie ausgebrochen wäre. „Überdiagnosen“ nennt sich das Phänomen, das durch die folgenden Überbehandlung das Leben Betroffener zerstören kann. Dabei gibt es schon jetzt die Möglichkeit, Patienten davor zu bewahren.


Stell dir vor, du fühlst dich gut und gehst nur zur Routineuntersuchung zur Ärztin. Diese führt sie durch und sendet Proben ins Labor ein. Kurz darauf lautet die Diagnose auf Grundlage des Laborberichtes: Krebs! Undenkbar? Keineswegs – und leider auch dann nicht, wenn gar keine bloß latente Erkrankung vorliegt.

Waldpiraten: Keine Angst trotz Krebs

Von „Überdiagnosen“ ist die Rede, wenn z.B. aufgrund eines positiven Befundes eine vermeintliche Krebserkrankung festgestellt wird, die noch gar nicht ausgebrochen ist und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nie ausgebrochen wäre. Natürlich lassen sich derart hypothetische Fälle schlecht einzeln beweisen. Doch die Wahrscheinlichkeit einer Überdiagnose bei einzelnen Krebsarten kann ermittelt werden, indem jeweils zwei Patientengruppen mit ähnlichen Befunden verglichen werden: Die eine Gruppe wird als krank betrachtet und behandelt, die andere nicht oder aber weniger aggressiv.

Wie kann es überhaupt zu solchen Abweichungen bei der Reaktion auf Befunde kommen? Laien überrascht die Erklärung: Täglich entstehen im Körper jedes Menschen mehrere hundert Krebszellen. Die Selbstheilungskräfte des Körpers sorgen aber dafür, dass vergleichsweise Wenige tatsächlich an Krebs erkranken. Gleichzeitig werden die medizinischen Möglichkeiten, Krebszellen zu finden, immer präziser. Getreu dem Leitsatz „Je früher Diagnose und Therapie, desto besser“ wird dann schlimmstenfalls mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Auch winzige Abnormitäten in Darm oder Lunge führen häufig zu weitergehenden Untersuchungen und schließlich oft zu Überdiagnosen. Bei Lungenkrebs schätzen Experten den Anteil der Überdiagnosen auf 18%, bei Brustkrebs auf 25% und bei Prostatakarzinomen sogar auf 60%.

Lautet die Überdiagnose „Krebs“, bedeutet das für die Betroffenen ein monate- bis jahrelanges Martyrium. Strahlen- und Chemotherapie schädigen den körperlichen Gesamtzustand und die Selbstheilungskräfte des Körpers massiv, manchmal irreparabel. Die Patienten wissen oft nicht, worauf sie sich bei einer Krebstherapie einlassen: Nur 9% der 50- bis 69-Jährigen, die am häufigsten zur Krebsvorsorge gehen, berichteten in einer Studie davon, dass der behandelnde Arzt sie über die Möglichkeit einer Überdiagnose und damit auch einer Überbehandlung informiert habe.

Als Patient sollte man daher Aufklärung über die Risiken der Krebs-Früherkennung verlangen und einer ärztlichen Diagnose nicht unkritisch vertrauen. Kritische Ärzte fordern indes, bei bildgebenden Untersuchungsmethoden die Grenzen anzuheben, ab denen die Diagnose „Krebs“ gestellt wird. Und die Mediziner müssten endlich vermehrt dem Wunsch von 80% der Patienten nachkommen, die noch vor einer Früherkennung über das Risiko von Überdiagnose und Überbehandlung informiert werden möchten.