VON ANGELA SCHWEIZER | 09.12.2015 14:48

Zurück ins Leben: Therapie in Baden-Württemberg für jesidische IS-Folteropfer

In einem bisher einzigartigen Projekt will Baden-Württemberg insgesamt 1.000 traumatisierten jesidischen Frauen und Kindern aus dem Nordirak helfen. Die Opfer des Islamischen Staates, die sich derzeit in einem Flüchtlingslager befinden, sollen bis Ende des Jahres nach Baden-Württemberg ausgeflogen werden. Dort bekommen sie therapeutische Behandlung und eine neue Perspektive für ihre Zukunft. Uni.de berichtet über die Hintergründe des Projekts.



Glaube und Herkunft des jesidischen Volkes

Jesidinnen und Jesiden stammen aus dem Irak, Syrien und der Türkei. Sie leben in und um die nordirakische Stadt Mossul. Der jesidische Glaube enthält Elemente aus Christentum, Islam, Judentum und Zoroastrismus. Sie glauben an einen Gott und verehren sieben Engel, verneinen jedoch die Existenz des Teufels. Aufgrund von starker Diskriminierung und Verfolgung mussten viele Jesidinnen und Jesiden bereits in vorherigen Jahren ihre Heimatländer verlassen. Auch für den IS gelten sie als „Teufelsanbeter“; bei einem Angriff im August 2014 wurden tausende Männer getötet und bis zu 7.000 Frauen verschleppt und versklavt. 2.000 konnten entkommen oder freigekauft werden und leben derzeit in kurdischen Flüchtlingslagern.

Die Gewalt gegen Frauen setzt sich in den Flüchtlingslagern fort

Doch statt der erwarteten Hilfe setzt sich das Grauen dort oft fort: Vergewaltigte Frauen gelten sowohl in der irakischen als auch in der konservativen jesidischen Gesellschaft als „entehrt“. Psychologische Unterstützung gibt es nicht, manche wurden in den Camps sogar weiter zur Prostitution gezwungen. Viele Frauen versuchten sich das Leben zu nehmen. Nachdem der Zentralrat der Jesiden in Deutschland bereits an vielen relevanten Stellen, wie beispielsweise der Bundesregierung, vorgesprochen hat ist es ihm gelungen, Baden-Württemberg für ein, momentan in Deutschland noch einzigartiges Hilfsprojekt zu mobilisieren: 95 Millionen Euro will das Land für die nächsten drei Jahre zur Deckung der Flugkosten, sowie zur Versorgung und psychotherapeutischen Behandlung traumatisierter Menschen bereitstellen. In dem Programm gibt es kein verbindliches Religions-, Ethnien- oder Staatsbürgerschaftskriterium - auch Christinnen, Schiitinnen und Turkmeninnen im Nordirak haben ähnliches erlebt und können in das Projekt aufgenommen werden. Junge Jesidinnen sind jedoch am stärksten betroffen.

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Die schwierige Aufgabe des Psychologen

Der baden-württembergische promovierte Traumaforscher und Psychologe Jan Ilhan Kizilhan ist Dreh- und Angelpunkt des Projekts. Kizilhans Eltern sind kurdische Jesiden, er spricht Türkisch, Persisch und die kurdischen Dialekte Sorani und Kurmandschi, die auch Sprachen der jesidischen Bevölkerung sind. Kizilhan ist Leiter der Abteilung für transkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie an der Michael-Balint-Klinik im Schwarzwald und lehrt als Professor an der dualen Hochschule in Villingen-Schwenningen. Der Psychologe hat die schwierige Aufgabe, die Schutzbedürftigsten zu identifizieren, und spricht dazu innerhalb einer Woche mit bis zu 100 Frauen und Kindern im Irak. Dem Grauen seien dabei keine Grenzen gesetzt, so der Traumaforscher. Eine 16-jährige Jesidin etwa überschüttete sich selbst mit Brennstoff und zündete sich an, da sie hoffte dass sie nicht mehr vergewaltigt werden würde, wenn sie „hässlich“ sei. Sie wurde inzwischen in Baden-Württemberg operiert. Baden-Württemberg hat, bezogen auf die Einwohnerzahl, die höchste Dichte an psychotherapeutischen Praxen auf der ganzen Welt. Wo, wen nicht hier, kann den Jesidinnen geholfen werden? Monika Hauser, Leiterin und Ärztin bei Medica Mondiale sieht das völlig anders: "Traumatisierte, vergewaltigte Jesidinnen herauszuholen nach Baden-Württemberg, ohne klare Perspektive, das halte ich für sehr fragwürdig und sehe ich als kritisch an. Frauen die zum Beispiel in den Nordirak geflohen sind, treffen dort sehr wohl auf fähiges Personal.“ Dieses Personal müsse vor Ort unterstützt werden, da ihm der traumaspezifische Blick fehlen würde. Deshalb sollten besser Qualifikationsangebote für das Personal vor Ort bereitgestellt werden. Die Frauen selbst wollen jedoch ausreisen. Baden-Württemberg stellt es ihnen nach zwei Jahren frei, in den Irak zurückzukehren oder zu bleiben.

„Braou, braou“ lautet ein jesidischer Trauergesang, der die tausendjährige Leidensgeschichte des jesidischen Volkes in Worte fasst. Übersetzt bedeutet das: „Warum konnten wir nicht helfen?“