VON MAXIMILIAN REICHLIN | 17.11.2014 15:14

Redakteure, die vom Nachbarn abschreiben – Der Artikel, der so ist, wie alle anderen

Während der Recherche zu meinem letzten Artikel ist mir etwas aufgefallen: Die Berichterstattung der meisten Nachrichtenplattformen im Netz ist absolut gleichartig. Oft schreiben einzelne Plattformen ganze Passagen einfach nur voneinander ab. Hat das noch etwas mit publizistischer Vielfalt zu tun, wenn im Grunde alle größeren Medien gleichgeschaltet sind? Oder führt am Abschreiben einfach kein Weg vorbei? Ich habe den Selbsttest gewagt. Wie viel von dem, was ich schreibe, ist tatsächlich nur eine Kopie?


Wieder einmal ist eine Mail meines Chefredakteurs in meinem Postfach gelandet. Ich soll einen Artikel über die Rohstofffunde in Mosambik schreiben. Da das Thema spannend klingt mache ich mich sofort an die Arbeit. Das bedeutet für mich zuerst einmal: Recherche. Ich bin kein Goldschürfer aus Westafrika, ich kenne mich nicht mit Erdgasförderung aus und wenn ich ganz ehrlich sein soll: Ich weiß nicht einmal genau, wo Mosambik liegt.

Wie Medien uns sprachlich manipulieren

Dementsprechend komme ich ohne gründliche Recherche überhaupt nicht aus. Meine erste Anlaufstelle sind meistens die größeren Tageszeitungen, die auch online vertreten sind. Deren Berichterstattung vermittelt immer ein relativ fundiertes Hintergrundwissen. Doch hier stoße ich schon auf die ersten Anzeichen des Problems. Auf meiner Suche finde ich fünf oder sechs Artikel, die sich alle relativ ähnlich lesen und meistens die selben Informationen beinhalten: Wer investiert bereits in die neue Industrie in Mosambik, wie viel Geld ist bisher geflossen, und so weiter.

Ich suche weiter. Was ich als nächstes finde, macht mich stutzig: Dieser Text kommt mir bekannt vor. Und tatsächlich: Hier verwendet der österreichische Standard Wort für Wort Passagen und Wendungen aus einem Artikel auf Zeit-online. Zwar stammen beide Artikel aus der Feder des gleichen Autors, höchstwahrscheinlich eines freien Redakteurs, aber als Leser weiß man so etwas auf den ersten Blick oft nicht. Ähnlich lesen sich dann etwa die minimal oder gar nicht überarbeiteten Meldungen verschiedener Nachrichtenagenturen wie Reuters oder der dpa, die auch auf so manchen Plattformen auftauchen. Ist mediale Meinungsvielfalt in Zeiten des Internet, in der ich als Journalist Informationen einfach per „copy and paste“ beziehen kann, überhaupt noch möglich?

Sicher, nicht immer sind die Berichterstattungen absolut identisch. Viele Artikel setzen unterschiedliche Schwerpunkte, einige beleuchten etwa die Situation der Arbeiter, andere konzentrieren sich auf die Auswirkungen auf die Wirtschaft. Zumindest gibt es also noch so etwas wie eine „persönliche Note“. Aber wie persönlich ist meine Note eigentlich wirklich? Immerhin kann ich mir meine Meinung auch nur aus dem bilden, was die anderen bereits geschrieben haben. Unterliege ich selbst auch der vielzitierten meinungsbildenden Macht der „vierten Gewalt“?

Es scheint fast so. Ich habe ja auch keine Möglichkeit, anders an Informationen zu gelangen. Ich kann keine Gespräche mit Experten führen, kann mir nicht die Situation vor Ort ansehen. Das können oft auch die größeren Zeitungen nicht, zumindest nicht, wenn es um kleine Themen geht. Nur aus diesem Grund gibt es ja Nachrichtenagenturen oder Plattformen im Internet. Hier gibt es alle relevanten Infos, knapp und gebündelt, fertig zum Mitnehmen. Das erleichtert uns die Arbeit, führt aber zu Einheitsbrei.

Am Ende ertappe ich mich selbst dann auch wieder beim Abschreiben. Ich zitiere Sachverständige, die ich selbst niemals gesprochen habe, weil die ZEIT sie interviewt hat. Ich hole mir Statistiken und Zahlen aus dem Handelsblatt. Resigniert stelle ich fest: Ohne die Bereitschaft, vom Nachbarn abzuschreiben, kann ich wohl meinen Job nicht machen. Ich kann nur sinnvoll aus den verschiedenen Quellen auswählen, einen persönlichen Standpunkt vertreten und hoffen, dass meine Leser die Möglichkeit wahrnehmen, sich selbst ihre eigene Meinung zu bilden. Vielleicht ist das der letzte Rest an „Meinungsvielfalt“, den wir heute noch erwarten dürfen.