VON ANGELA SCHWEIZER | 10.11.2014 17:50

Ohne Angst verschieden sein

„Wir fühlen uns dem christlichen Menschenbild verbunden. Das ist das, was uns ausmacht“, so Angela Merkel auf ihrer Rede bei einer CDU-Konferenz in Berlin. Wer das nicht akzeptiere, sei hier „fehl am Platz“. Unterstrichen hat die Kanzlerin dies jüngst in ihrer Buchveröffentlichung mit dem Titel „Daran glaube ich. Christliche Standpunkte“. Die Forderung zu einem Bekenntnis christlicher Leitwerte ist jedoch nicht nur ausgrenzend für Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften, sondern beispielsweise auch für die große Anzahl atheistischer (Ost-)Deutscher. Warum fällt es uns so schwer, andere kulturelle und religiöse Identitäten zu tolerieren und zu akzeptieren? Sagen diese Konflikte nicht mehr über die Mehrheitsgesellschaft aus als über die Minderheiten, denen sie versucht vorzuschreiben wie sie zu leben haben?

Fremdheit ist keine Eigenschaft an sich, sondern eine Beziehung zwischen Menschen. In der psychologischen Forschung nennt man dies das Phänomen des Double-Bind: Der Zwang zur Integration, bei gleichzeitigem „Othering“, das bedeutet, dass beispielsweise Muslime immer als „fremd“ erscheinen, weil sie im hegemonialen medialen und politischen Diskurs als fremd repräsentiert werden. Eine Studie der Vodafone-Stiftung kam zu dem Ergebnis, dass der Islam in den deutschen und britischen Medien überwiegend negativ dargestellt wird.

Der Zwang zur Normierung steht auch im Widerspruch zu den Grundwerten unserer Verfassung, laut denen es weder eine Staatsreligion noch eine Staatskirche gibt, und in der die Religionsfreiheit jedes Einzelnen im Grundgesetz verankert ist.

Frauen mit Migrationshintergrund

Charta der Vielfalt – Gelebter Multikulturalismus oder homöopathische Wirkung?

In Deutschland gibt es seit 2013 die „Charta der Vielfalt“, eine Unternehmensinitiative, die die Vielfalt in der Unternehmenskultur fördern soll. Bisher haben 1850 Unternehmen die Charta unterzeichnet, worin sie sich verpflichten, ein vorurteils- und diskriminierungsfreies Arbeitsumfeld zu schaffen, in welchem Menschen die gleiche Wertschätzung erfahren, ungeachtet von Alter, Religion, Behinderung oder kultureller Herkunft. Dass Deutschland noch einen langen Weg in Richtung einer multikulturellen Gesellschaft zu gehen hat, zeigt eine repräsentative Studie der pädagogischen Hochschule Freiburg: Jedes dritte der befragten Unternehmen gab an, keine Muslima mit Kopftuch einzustellen.

Kanada ist das einzige Land der Welt, in dem Multikulturalismus Staatsideologie ist. Seit 1971 ist dies per Gesetz festgelegt. Alle kulturellen Minderheiten Kanadas erhalten die nötige staatliche Unterstützung, um ihre kulturellen Werte, ihre Sprache und Traditionen erhalten und pflegen zu können. Ethnische Minderheiten, wie die „First Nations“, die indigene Bevölkerung Kanadas, haben eigene Radiosender und können Universitäten besuchen, an denen ihre Geschichte und ihre Sprachen gelehrt werden. „Unity-in-diversity“, (Einheit in Verschiedenheit) lautet eines der Grundprinzipien der kanadischen Verfassung. Verschiedenheit wird dabei als Bereicherung für die Gesellschaft angesehen, und jeder Mensch hat ein Recht auf kulturelle Differenz. Trotzdem definieren sich die Menschen zuerst als Bürger Kanadas. Dies könnte ein positives Modell für Deutschland sein, in dem immer noch die Vorstellung vorherrscht, Deutschsein definiere sich qua völkischer Abstammung, obwohl es schon sehr lange eine Einwanderungsgesellschaft ist. „Wir sind deutsch so wie du“ rappen daher die Berliner Schüler Kamyar & Dzeko in ihrem Video „Generation Sarrazin“.

Zur interkulturellen Kompetenz gehören vor allem Empathie und Ambiguitätstoleranz, was bedeutet, andere kulturelle Wertvorstellungen und Lebensweisen nicht nur zu tolerieren, sondern zu akzeptieren und auszuhalten. Sobald Vielfalt als Normalität anerkannt wird und jeder Mensch das prinzipiell gleiche Recht auf Freiheit zugestanden bekommt, ohne dass wir versuchen eigene Werte mit Dominanz und Macht durchzusetzen, wird es uns gelingen, in einer wirklich offenen Gesellschaft zu leben.