VON CLEMENS POKORNY | 10.11.2014 17:13

Homo, hetero, bi...? Vielfalt der Liebe!

Heute kennen wir eine nie dagewesene Vielfalt an sexuellen Freiheiten und Möglichkeiten, diese auszuleben. Doch durch die Kategorien „Hetero-“ und „Homosexualität“ schränkt sich unser Blick darauf ein, wie Menschen empfinden können. Dabei waren gleichgeschlechtliche Beziehungen und Zärtlichkeiten jahrhundertelang selbstverständlich und standen nicht im Widerspruch zu gegengeschlechtlicher Sexualität – kein Wunder: Denn sexuelle Identitäten sind immer auch Produkte der veränderlichen historischen und sozialen Umstände.


Einerseits zeichnet sich unsere Zeit durch eine enorme Vielfalt innerhalb der körperlichen Liebe aus: Nie gab es so viele Möglichkeiten, seine sexuellen Triebe auszuleben – sowohl in technischer als auch in rechtlicher Hinsicht. Das Internet bringt Menschen mit den ungewöhnlichsten erotischen Interessen zueinander, und virtuell entdecken Menschen, z.B. über die Pornographie, ungeahnte eigene Vorlieben. Doch andererseits haben sich gerade in der so aufgeklärten und liberalen westlichen Welt die Vorstellungen von Liebe und Partnerschaft im Vergleich zu früheren Epochen stark verengt – insbesondere, was von der gesellschaftlichen Norm abweichendes Verhalten angeht.

Zwischen Normalität und Todesstrafe

Homosexuelle Sexualkontakte etwa sind schon in der griechischen und römischen Antike bezeugt. Doch nicht nur das Wort „Homosexualität“ wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts geprägt. Auch das dahinter stehende Konzept ist ein Produkt unserer Zeit. Im alten Rom wurde, vereinfacht gesagt, nur zwischen penetrierenden und penetrierten Menschen unterschieden. Der „Top“ markierte durch seine Rolle seine Macht und festigte seine soziale Position. Denn die „Bottoms“ waren gesellschaftlich unter den Penetrierenden Stehende: Frauen, die ihren Männern gehörten, aber auch unmündige Knaben. Niemand nahm Anstoß an päderastischen Beziehungen, auch dann nicht, wenn der Mann verheiratet war. Homosexuelle Kontakte zwischen Vollbürgern, also erwachsenen Männern, waren wegen des fehlenden sozialen Gefälles dagegen unmöglich.

Das christianisierte Europa tolerierte platonische Beziehungen zwischen Männern nicht nur. Überhaupt pflegten Männer bis in die Neuzeit hinein untereinander ganz selbstverständlich einen sehr viel innigeren Umgang als heute. So konnte man durchaus davon sprechen, einen anderen Mann zu „lieben“, ohne dass dies im sexuellen Sinne aufgefasst wurde. Nur der Analverkehr wurde im Einflussbereich der abrahamitischen Religionen (Christentum, Judentum, Islam) unter Berufung auf die heiligen Schriften verurteilt und war in Deutschland ab dem 13. Jahrhundert bei schwersten Strafen untersagt. Zärtlichkeiten unter Männern blieben hierzulande lange Zeit üblich, unter Frauen gelten sie dem Mainstream ja bis heute als „normal“. Wie sehr solche Vorstellungen kulturell bedingt sind, zeigt ein Blick in andere Länder, etwa nach Indien, wo männliche Polizisten, die sich vom eigenen Geschlecht nicht angezogen fühlen, dennoch händchenhaltend auf Streife gehen – einfach, um ihrer Kollegialität Ausdruck zu verleihen.

Mit der Etablierung der Psychologie als eigener wissenschaftlicher Disziplin im 19. Jahrhundert wurde auch bald die Idee geboren, von der Norm abweichende sexuelle Anziehung fuße in psychischer Krankheit. So wurde „der Homosexuelle“ erst geboren, und so konnte der Psychiater Richard von Krafft-Ebing an die Politik appellieren, „Sodomisten“ nicht mehr zu bestrafen, weil ihr Verhalten angeboren sei, und stattdessen Ärzten zur psychiatrischen Untersuchung und bestenfalls Heilung zu überstellen.

Heute, lange nach der Verfolgung in der NS-Zeit und nach der Abschaffung des § 175 StGB, der sexuelle Handlungen zwischen Männern bis 1994 (!) unter Strafe stellte, bleiben Christopher Street Day und ähnliche Aktionen wichtig, um nach jahrhundertelanger Diskriminierung echte gesellschaftliche Akzeptanz von Homo- und Bisexualität zu erreichen. Schon in den Schulen merkt man ja, wie tief die Vorurteile noch sitzen: „Schwul“ dient als kontextunabhängiges Schimpfwort, und während 1970 noch 18% der für eine wissenschaftliche Untersuchung befragten Jugendlichen im Alter von 16 und 17 Jahren angab, schon einmal gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrungen gemacht zu haben, waren es 1990 nur noch 2%.

Diese Zahlen zeigen, wie stark von der Norm abweichendes Empfinden schon unter Heranwachsenden tabuisiert wird. Nur wenige mutige Menschen leben in der Queer-Szene ihre Identität als Homo-, Bisexuelle oder Transgender aus. Doch Studien legen nahe, dass gleichgeschlechtliche Anziehung viel weiter verbreitet ist als gedacht und in Befragungen zugegeben wird. Das sehr weit verbreitete homosexuelle Verhalten unter Tieren zeigt: Sich (auch) vom gleichen Geschlecht angezogen zu fühlen ist etwas ganz Natürliches. Schon Sigmund Freud ging davon aus, dass die meisten Menschen bisexuell seien, sich ihrer Neigungen aber entweder nicht bewusst seien oder diese nicht auslebten. Diese These bestätigen „situative“ Homosexuelle, also solche Menschen, die nur aus Mangel am anderen Geschlecht homoerotisch aktiv werden – etwa Matrosen, die monatelang zur See fahren, an Land aber nur Kontakte zu Frauen suchen.

Doch im herrschenden gesellschaftlichen Klima bleibt eine Kluft zwischen der gelebten sexuellen Identität und dem oft verheimlichten oder verleugneten tatsächlichen Empfinden. Sie beruht nicht zuletzt auf der Homo-Hetero-Dichotomie, die die Vielfalt (und Veränderlichkeit) der erotischen Empfindungen einer mutmaßlichen Mehrheit der Bevölkerung nicht abbildet. Mit anderen Worten: Solange wir Menschen primär aufgrund ihres Geschlechtes lieben und nicht, weil wir uns zu ihnen als Menschen hingezogen fühlen, berauben wir uns eines Teils unserer Möglichkeiten zur freien Entfaltung unserer Persönlichkeit.