„Wir sind in unserer Wissenschaft an die Grenzen des Erkennbaren gestoßen. Wir wissen einige genau erfassbare Gesetze, einige Grundbeziehungen zwischen unbegreiflichen Erscheinungen, das ist alles, der gewaltige Rest bleibt ein Geheimnis, dem Verstande unzugänglich.“ Diese Skepsis lässt Friedrich Dürrenmatt seinen Möbius im Drama „Die Physiker“ ausdrücken. Dessen Resignation hat etwas Faustisches. Doch während Goethes Protagonist sich schließlich der Magie hingibt, um zu erkennen, „was die Welt / im Innersten zusammenhält“, hat Möbius die „Weltformel“ selbst gefunden – und versucht vergeblich, sie wieder zu vernichten.
Die Grenzen dessen zu übersteigen, was wir erkennen können, versuchten Menschen vielleicht schon immer. Solche Bemühungen mündeten spätestens in der Steinzeit in die Entstehung von Religionen und den in Kulten gelebten Glauben an einen oder mehrere Götter. Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens gelangt man schnell zu transzendentalen Fragen. Die Komplexität unserer Umwelt mit all ihren undurchschaubaren, von Zufall oder Notwendigkeit bestimmten Ereignissen verleitet dazu, die Suche nach (Letzt-) Begründungen mit der Setzung übermenschlicher Instanzen zu beenden. Ohne Zweifel zeichnet die Fähigkeit zur Transzendenz den Menschen vor den Tieren aus, und schon im Wortsinne ist „religio“ (nach einer von vielen Erklärungen des Wortes) die „Rückbindung“ des Menschen an Gott. Wegen dieser individuellen, spirituellen Funktion vermag Religion also Orientierung zu geben, insbesondere auch durch die Propagierung einer spezifischen Moral. Nicht zufällig fordern alle großen Religionen Barmherzigkeit von ihren Anhängern, kennen das fundamentale ethische Prinzip der Goldenen Regel und stellen es bisweilen sogar ins Zentrum ihrer Lehre, und noch Kant vertrat die Ansicht, Moral könne ohne Gott nicht gedacht werden.
Angesichts der wachsenden Zahl an nichtreligiösen Menschen hierzulande wie auch einer Vielfalt an ethischen Modellen seit der Antike, die ohne Götter auskommen, wird Kants Meinung auch von (liberalen) Gläubigen unserer Zeit kaum mehr vertreten. Der schwindenden Rolle der institutionalisierten Religionen in den westlichen Ländern ab dem 20. Jahrhundert und dem damit verbundenen zunehmenden Individualismus und Werteverfall steht aber auch bei uns ein anhaltend hohes Bedürfnis nach Spiritualität gegenüber, die immer häufiger in Freikirchen, selbstorganisierten Gemeinschaften ohne Hierarchien oder individuell ausgelebt wird.
Ob Religionen gute Antworten auf die Grundfragen der Menschheit geben, bleibt dabei eine weltanschauliche Frage. Philosophische Materialisten wie Ludwig Feuerbach oder Karl Marx gehen davon aus, dass metaphysische Dinge (Universalien) nur in der Phantasie der Gläubigen existieren. „Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eigenen Kopfes, so wird er in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eigenen Hand beherrscht.“ Diese Parallelisierung gehört zu Marx' Theorie der Entfremdung, derzufolge in allen bisherigen Gesellschaftsordnungen die Beziehung des Menschen zu sich selbst, zu Anderen, zu seiner Arbeit und deren Produkten gestört ist. Die Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno untersuchten diesen Entfremdungsbegriff in ihrer Essaysammlung „Dialektik der Aufklärung“ und postulierten, dass die in der Zivilisation erlangte Macht über die Natur nur zum Preis der Entfremdung von dieser zu haben sei. Gesellschaft und Kultur setzen nach ihnen Entfremdung voraus, brauchen sie geradezu. Der Prozess der Entfremdung des Menschen von sich selbst – bei Horkheimer und Adorno: die „Aufklärung“ – hält aber zugleich sein Bedürfnis nach Spiritualität als Rückbindung an Gott als einer Instanz, in der alle Entfremdung aufgehoben ist, wach.