VON CLEMENS POKORNY | 06.12.2013 15:01

Das kurze Leben der Gockel

Kein Eierproduzent brütet seine Legehennen hierzulande noch selbst aus. In Brütereien aber werden männliche Küken sofort nach dem Schlupf geschreddert oder vergast – weil sie zu Rassen gehören, die als Fleischlieferanten nicht taugen. Verbote dieser Praxis wie in Nordrhein-Westfalen kürzlich erlassen versprechen kaum Wirkung für die Tiere. Auch die meisten Bio-Betriebe nehmen den jährlich millionenfachen sinnlosen Tod der Gockel (und damit ja der Hälfte der ausgebrüteten Hühner) in Kauf. Doch in einzelnen Betrieben hat ein Umdenken eingesetzt – und auch der Verbraucher ist gefragt.


Spezialisierung ist auch in der Landwirtschaft die Regel. Die Folge: Lebensfeindliche Agrarwüsten, die ohne Pestizide nicht auskommen, auf der einen und riesige Ställe mit Tieren dicht an dicht, die ohne Antibiotika hochgradig gefährdet wären, auf der anderen Seite. Bei der „Produktion“ von Hühnern und Eiern geht die Differenzierung noch weiter: Einerseits gibt es längst unterschiedliche Rassen für die Produktion von Hühnerfleisch und von Eiern. Und andererseits kümmern sich unterschiedliche Betriebe um den Nachschub an Eiern: In Brütereien werden die Hühnereier in Massen künstlich bebrütet und die frisch geschlüpften Küken nach Geschlechtern getrennt, „gesext“, wie die Fachfrau sagt. Die Männchen, die aufgrund ihrer Rasse zu langsam wachsen und zu wenig Fleisch ansetzen würden, werden sofort vergast oder lebendig geschreddert. So sterben alleine in Deutschland 34 Millionen kleine Gockel jedes Jahr. Die Weibchen dagegen haben noch etwa ein Jahr Eierproduktion auf darauf spezialisierten Höfen vor sich, bis ihre Legeleistung in ein zu schlechtes Verhältnis zu ihren Kosten gerät – und sie als Suppenhühner geschlachtet oder zu Tiermehl verarbeitet werden.

Wir Deutschen essen gerne Fleisch.


Das sinnlose Ende der Gockel steht schon seit langem in der Kritik. In Nordrhein-Westfalen als erstem Bundesland wurde die grausame Praxis kürzlich verboten – das deutsche Tierschutzgesetz erlaubt Tötung von Tieren nur aus „vernünftigem Grund“, und die Brütereien bewegen offenbar nur Fragen der Wirtschaftlichkeit. Ob die Regelung im Nordwesten eine echte Verbesserung zeitigt, bleibt abzuwarten – erwartet wird eher die Abwanderung von Brütereien in andere Bundesländer oder ins Ausland.

Einzelne Bio-Betriebe sind da schon weiter: Sie kaufen den Brütereien zusätzlich zu den jungen Weibchen eine bestimmte Zahl kleiner Gockel ab und mästen sie ein halbes Jahr (statt wie normal nur einen Monat) lang bis zur Schlachtreife. Ökonomisch effizient ist das nicht. Über die Leistung ihrer Schwestern lässt sich dieser humane Umgang mit den Tieren allerdings finanzieren, indem die entstehenden Mehrkosten als geringer Aufpreis auf den Eierpreis aufgeschlagen werden. Unter dem Dach der „Initiative Bruderhahn“ haben sich die dergestalt produzierenden Eierbetriebe zusammengeschlossen, Richtlinien für einen humanen Umgang mit den jungen Gockeln formuliert und ein Gütesiegel etabliert, das alle entsprechend produzierten Eier und das Fleisch der Hähne auszeichnet. Der Aufpreis wird dabei auf 4 Cent pro Ei festgeschrieben und bewusst deutlich auf den Eierpackungen deklariert.

So können verantwortungsbewusste Verbraucher schon heute zu einer Reduzierung des sinnlosen Tötens der gerade geschlüpften Gockel beitragen. Die Liste der teilnehmenden Höfe und Vertriebe ist freilich kurz, und ähnliche Projekte gibt es noch kaum, sodass auch mittelfristig nicht Jeder Zugang zu den moralisch korrekten Eiern erlangen dürfte – solange man nicht gleich selbst dem Trend folgt und zum Hobby-Hühnerhalter wird. Wie gut, dass Veterinärmediziner vielversprechende Zwischenergebnisse bei ihren Bemühungen vermelden, das Geschlecht eines Kükens bereits im Ei zu bestimmen. So könnten die 50% „unrentablen“ Eier in den Brütereien künftig bereits im Embryonalstadium aussortiert und so das Töten der Gockel vermieden werden. Einstweilen sollten wir uns überlegen, was uns das Wohl unserer Nutztiere wert ist. Gerade bei Eiern betragen die Preisunterschiede nur wenige Cent: Während das Bio-Ei vom Discounter, das in der Regel aus von den Bio-Richtlinien nicht verbotener Massentierhaltung stammt (!), durchschnittlich 26 Cent kostet, muss für Eier der Bruderhahn-Initiative 40 Cent und mehr bezahlt werden. Das kann sich immer noch Jeder leisten. Überhaupt sollten wir Deutschen uns fragen, ob wir weiterhin in Europa zu denjenigen gehören wollen, die mit am wenigsten fürs Essen ausgeben. Damit setzen wir mehrheitlich falsche Prioritäten und nehmen dafür Tier- und Menschenleid durch ruinösen Konkurrenzkampf unter den Bauern in Kauf. Darüber hinaus ist aber auch die Spezialisierung in Frage zu stellen: Müssen es wirklich immer mehr Eier, muss es immer mehr Fleisch pro Tier sein? Oder könnten wir uns nicht auch mit dem Gedanken anfreunden, etwas mehr Geld für Produkte von alten Nutztierrassen zu zahlen, die sowohl Eier als auch Fleisch liefern, und dafür intakte Produktionskreisläufe zu fördern – ohne den sinnlosen Tod der Gockel?