VON JANA NOSSIN
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15.10.2015 13:14
Mal hinterfragt - Über Bauern in Krisen und aussterbende Wiesenkühe
Kürzlich habe ich einen Artikel gelesen: „US-Dürre stürzt deutsche Milchbauern in die Krise“….
Noch die Bilder der protestierenden Bauern im Kopf, die Anfang des letzten Monats in der Münchner Innenstadt gegen die niedrigen Milchpreise und die daraus drohende Pleite protestierten, bin ich nun leicht verwundert und etwas irritiert. Was ist denn nun jetzt genau das Problem – Milchpreis oder Futtermittel? Und überhaupt, was hat die US-Dürre mit den deutschen Milchbauern zu tun?
Ich lese weiter und erfahre, dass Soja eines der wichtigsten Kraftfuttermittel für Milchkühe sei und dass dieses vorrangig aus den Soja-Anbaugebieten der USA nach Deutschland importiert werde. Auslöser der aktuellen Krise sei vor allem die Dürre in den Soja-Anbaugebieten der USA.
Aha, soweit verstanden. Aber gleich drängt sich mir die nächste Frage auf.
Kraftfutter für Kühe?
Ja, ok, ich bin ein Stadtmensch, und vielleicht weiß heute jedes 4-jährige Kind, warum Kühe Kraftfutter benötigen, welches man von einem anderen Erdteil importieren muss. Aber ich war bisher immer der festen Meinung, dass Kühe vor allem Gras, Klee und Heu fressen. Und das müsste doch ebenso auf unserem Kontinent erhältlich sein. Warum benötigt die deutsche Kuh also amerikanisches Kraftfutter?
Die Frage lässt mich nicht mehr los und ich beginne ein wenig zu recherchieren.
Über das Leben deutscher Hochleistungs-Milchkühe
Ca. 4,8 Millionen der derzeit in Deutschland insgesamt gehaltenen 12,7 Millionen Rinder sind sogenannte Milchkühe. Die Schwangerschaft einer Milchkuh wird durch künstliche Befruchtung herbeigeführt und dauert – genau wie bei uns Menschen – 9 Monate. Jedoch werden Muttertier und Kalb kurz nach der Geburt getrennt, damit der Mutterkuh, einer auf Hochleistung gezüchteten Milchmaschine, Milch – eigentlich die Muttermilch des Kalbes - abgemolken werden kann.
In Deutschland werden jährlich über 4 Millionen Kälber geboren. In seinem jungen Leben muss ein Kalb einige schmerzhafte Erfahrungen über sich ergehen lassen. Das Leben einer Milchkuh beginnt mit Isolation. Nachdem die nur wenige Tage alten Jungtiere von ihren Müttern getrennt wurden, werden sie in Haltungssysteme, in sogenannte Kälberboxen gesperrt. Kälberboxen sind Isolierstationen, die eine Größe von ca. 120x80 cm bemessen. Getrennt und isoliert von ihren Artgenossen, rufen die Kälber in ihren engen Boxen unentwegt nach ihren Müttern. Die geringe Bewegungsfläche und das ständige Isoliert- und Eingesperrtsein in einer monotonen sowie reizarmen Umgebung, lässt die Tiere zusätzlich leiden und führt oft zu einer tage- oder wochenlagen Verstörung.
Die meisten der Jungtiere werden bereits in den ersten Lebenswochen enthornt. Das ist für die Tiere eine schmerzhafte Angelegenheit. Trotzdem darf die Enthornung von Kälbern laut Gesetz während der ersten 6 Lebenswochen ohne Betäubung erfolgen. Auch Bio-Betriebe praktizieren die Enthornung. Hierbei werden den Kälbern mit einem mehrere hundert Grad heißen Eisen die Hörner abgebrannt. Rinder halten wegen ihrer Hörner einen gewissen Mindestabstand zu ihren Artgenossen ein. Enthornte Tiere halten weniger Abstand. So können die Ställe kleiner- und somit die Kosten geringer gehalten werden.
Männliche Kälber werden kastriert. Dieser Prozess ist für die Kälber in jedem Fall qualvoll und je nach Methode sogar mit Langzeitschmerzen verbunden. In der Schweiz und in Österreich darf die Kastration männlicher Kälber nur unter Lokalanästhesie durchgeführt werden, in Deutschland ist eine Schmerzausschaltung bei Kälbern unter vier Wochen jedoch nicht gesetzlich vorgeschrieben, daher erfolgt die Kastration in den meisten Fällen ohne Betäubung.
Kühe können trauern und bedrückt sein, ja sogar weinen, wenn sie Schmerzen haben oder einen Verlust empfinden, wie z. B. die Trennung von Familienmitgliedern oder Freunden. Kühe sind intelligente Tiere, die bis zu 100 Herdenmitglieder erkennen können und sogar Freundschaften mit anderen Kühen schließen. Die Bindung zwischen Kuh und Kalb ist besonders stark. So gibt es unzählige Berichte über Mutterkühe, die, nachdem man ihnen ihre Kälber weggenommen hat, fanatisch und verzweifelt nach ihren Neugeborenen rufen. Einst besuchte der Autor Oliver Sacks, eine Milchfarm, als er plötzlich bei seiner Ankunft ein ungewöhnlich verstörendes und lautes Gebrüll vernahm. Eine Expertin erklärte ihm, dass an diesem Morgen wahrscheinlich Kuh und Kalb getrennt wurden. Und genau das war auch geschehen. Als sie näher kamen, streifte eine Kuh außerhalb des Geheges sichtlich verzweifelt umher und suchte laut brüllend nach ihrem Kalb. Auch John Avizienius, der Senior Scientific Officer in der Abteilung „Nutztiere“ einer in Großbritannien ansässigen Farm, erzählte einst, dass er sich an eine Kuh erinnere, die, nachdem man sie von ihrem Kalb getrennt hat, über mindestens 6 Wochen akut bekümmert war und ständig zu dem Gehege, wo sie ihr Kalb zuletzt gesehen hatte, zurückkehrte und dort stundenlang nach ihrem Kalb brüllte. Selbst nach vielen Wochen blieb die Mutterkuh immer wieder vor diesem Gehege stehen und suchte nach ihrem Kalb.
Mit weniger mehr erreichen – zur Notwendigkeit von Suffizienz
Aufgrund des Klimawandels, der wachsenden Weltbevölkerung, der versiegenden Ressourcen und dem Verlust der Biodiversität ist eines klar: Wir müssen Wege finden, um uns zu reduzieren
[...]»
Ihrer natürlichen Bestimmung nach, geben Kühe geben nur Milch, wenn sie ein Kalb zur Welt bringen. Ohne die züchterischen Eingriffe des Menschen würden Kühe demnach auch nur ca. 8 Liter Milch pro Tag produzieren. Genau so viel wie sie zur Ernährung ihrer Kälber benötigen. Doch die industrielle Intensivtierhaltung zielt auf maximale Produktionsmengen und so werden den industriellen Hochleistungsrassen täglich bis zu sechzig Liter Milch abgemolken. Im Laufe eines kurzen Kuhlebens in der industriellen Massentierhaltung produziert ein einzelnes Tier nicht selten bis zu 100 Tonnen Milch.
Die Kälber selbst bekommen als Nahrung nur einen Milchersatz, der primär aus Molkepulver besteht, da ihre eigentliche Muttermilch ja für den menschlichen Verzehr vorbehalten ist. Mittlerweise dürfen Kälbern auch wieder tote, zermahlene Fische gefüttert werden. Das war nach der BSE Krise lange Zeit verboten.
Ich halte einmal kurz inne. Erst jetzt wird mir bewusst, dass wir Menschen mit dem Konsum von Kuhmilch eigentlich Muttermilch einer anderen Spezies trinken. Komisch, dass ich darüber vorher in noch nie nachgedacht habe.
Die männlichen Kälber werden oft ins Ausland verkauft oder kommen nach 8 Wochen direkt in die Kälbermast, wo ihr tristes, kurzes Leben dann im Schlachthaus endet. Die weiblichen Kälber erwartet in der Regel ein Leben als Milchkuh. Dies bedeutet, dass die Tiere – wie deren Mütter – auf Hochleistung gezüchtet und gehalten werden.
Kühe sind soziale, gutmütige, intelligente und neugierige Tiere, mit einer klaren Rangordnung und einem beeindruckenden Sozialverhalten. Sie bilden feste und lebenslange Freundschaften, sind in der Lage, gegenseitig voneinander zu lernen und verfügen über eine tiefgreifende Loyalität gegenüber ihren Familien und menschlichen Gefährten. Nicht nur durch ihre Körperhaltung, auch durch verschiedene Stimmlaute, können Kühe eine große Anzahl an Emotionen wie Freude, Zufriedenheit, Wut, Leid und Trauer ausdrücken.
In Deutschland - und auch in der EU - gibt es, neben diversen Verordnungen, keine gesetzlichen Regelungen hinsichtlich der Haltung von Milchkühen. Dieser Mangel an Vorschriften führt dazu, dass Landwirte selbst entscheiden, wie sie ihre Kühe halten und pflegen. So stehen dem Wohl der Tiere so gut wie immer kostengünstige Haltungsvarianten entgegen. Zu den Grundbedürfnissen dieser Tiere gehören das Gehen, Erkunden, Galoppieren, Grasen, Rauhen, das Hornen (Stämmen der Hörner gegen die der Artgenossen) und das gegenseitige Belecken. Diese Bedürfnisse werden den Tieren jedoch gänzlich unmöglich gemacht. Die meisten Tiere der Intensivtierhaltung sehen in ihrem Leben daher niemals Himmel, fühlen niemals Sonnenstrahlen oder dürfen niemals grasen. lau
Laut einer Landwirtschaftszählung 2010 leben
72 Prozent aller Milchkühe in Laufstallhaltung. Diese Art der Haltung wird von der Tierindustrie
als besonders „kuhfreundlich“ gepriesen. In der Praxis heißt das, dass die Tiere in engen Ställen, der sogenannten Liegeboxenlaufstallhaltung, gehalten werden, wo der Laufbereich mit Spaltböden versehen ist. Spaltböden sind Betonböden, die schmale Stege als Trittfläche für die Tiere und Spalten - zum Durchlass von Kot und Harn - abwechseln. Die Böden der Liegeboxen bestehen häufig aus Gummi und werden nur selten mit Einstreu ausgestattet. So hat jedes dieser bewegungsfreudigen Tiere, die in der Natur täglich bis zu 13 km pro Tag zurücklegen würden, eine Fläche von 3,5-4 qm Bewegungsfläche zur Verfügung. Einige der Tiere, derzeit sind das ca.
27 Prozent, also fast ein Drittel,
leben sogar noch in Anbindungshaltung, bei welcher die Tiere mit Halsrahmen oder Ketten ein Leben lang an Gittervorrichtungen fixiert und zu einer nahezu völligen Bewegungslosigkeit gezwungen werden.
Die natürliche Lebenserwartung von Kühen, die ein Gewicht von 500 bis 800 kg erreichen, liegt bei 18-25 Jahren. Die Lebenserwartung von gezüchteten und in der Intensivtierhaltung lebenden Milchkühen liegt bei 4,5 bis maximal 5 Jahren. Durch die Intensivtierhaltung erleiden die Tiere zudem häufig
schmerzhafte chronische Erkrankungen und Verletzungen.
In Deutschland produzierten 77.669 „Milchviehhalter“ im Jahr 2014 rund 32,4 Millionen Tonnen Milch. Wobei hiervon ganze 49 Prozent, also fast die Hälfte, in andere Länder exportiert wurde. So ist Deutschland der größte Milchproduzent und Milchexporteur Europas. Eine ganze Industriesparte. Genauer gesagt ist Deutschland der größte Kuhmilcherzeuger der EU.
Wenn ich mir bewusst mache, wie voll unsere Supermärkte mit Milch und Milchprodukten sind, wird mir klar, warum die wenigen Kühe, die man beim Wandern in der Natur auf der Weide stehen sieht, diesen Bedarf niemals decken könnten. Dennoch hatte ich bisher immer die Vorstellung, dass all die Milch, die wir täglich konsumieren, genau von solchen Kühen stammt. Eine Utopie.
Die Illusion von glücklich grasenden Kühen auf grünen Wiesen hat sich die Milchindustrie allein im Jahr 2011 rund
138 Millionen Euro kosten lassen, so viel gab man in nur einem Jahr als Werbeetat für Milch/Milchprodukte aus. Die auf Hochleistung gezüchtete Milchkuh bleibt dem Verbraucher jedoch vorenthalten.
Und endlich erfahre ich auch, warum die deutschen Milchkühe ein Gemisch aus aufbereitetem Kraftfutter als Nahrung erhalten. Der Grund liegt darin, dass die industrielle Milchkuh anders niemals die von der Industrie abverlangte Menge Milch erzeugen könnte. Unnatürlich hohe Milchmengen können scheinbar nur durch Zugabe unnatürlicher Futtermittel erzielt werden, denn der Energiebedarf der Hochleistungskühe ist so immens hoch, dass man diesen nicht alleine über natürliche Nahrung decken kann. Normalerweise verbringen Kühe auf der Weide täglich bis zu 10 Stunden mit der Nahrungsaufnahme. Durch das Kraftfutter verringert sich die Dauer der Nahrungsaufnahme auf nur 3 Stunden täglich.
Am Ende ihrer Belastbarkeit, nach ca. 4-5 Jahren, werden die Tiere für die Milchproduzenten ineffizient und somit unbrauchbar. So endet das Leben der Milchkühe letztendlich im Schlachthaus. Eng zusammengepfercht werden die Tiere dann auf ihre erste und gleichzeitig letzte Reise geschickt, wo sie - selbst bei extremen Witterungsbedingungen - teilweise viele hundert Kilometer, oft ohne Wasser und unzureichende Pausen, in Lastkraftwägen zum Schlachthaus gefahren werden. Manche Tiere überleben die Fahrt zum Schlachter nicht. Diejenigen, die es doch überlebt haben, werden einzeln in den Schlachtraum geführt, dort mit einem Bolzenschussgerät durch Kopfschuss betäubt und dann an einem Bein mit einem motorbetriebenen Kettenzug kopfüber aufgehängt. In einigen Fällen kommt es zu
Fehlbetäubungen. Diese liegt bei ungeübten Schützen bei
9-20 Prozent. Durch das Aufschneiden der Halsschlagader bluten die Tiere dann kopfüber langsam aus. Der Tod tritt ein.
Oft bemerken die intelligenten Tiere schon bei der Ankunft am Schlachthof, was sie an diesem Ort erwartet. An dieser Stelle erinnere ich mich an die Kuh Bavaria, die im September 2014 panisch von einem Münchner Schlachthaus Richtung Theresienwiese geflüchtet war. Ja, auch Kühe wollen nicht sterben und hängen an ihrem Leben. Sie fürchten den Tod wie wir Menschen. Doch 4,2 Millionen Kühe werden dennoch jährlich – allein in Deutschland – für die Fleisch- und Milchindustrie in den Schlachthäusern getötet.
Phhu, manchmal ist so ein Blick hinter die Kulissen ganz schön unbequem. Dennoch bin ich froh, mehr über die Herkunft und Produktion meiner bisherigen Nahrungsmittel erfahren zu haben. Ich weiß jetzt, dass Milchkonsum auf Kosten von Millionen sensibler und leidensfähiger Tiere geht, deren Körper auf maximale Milchmengenproduktion gezüchtet wurde. Auch in Bio-Betrieben werden die Kühe lebenslang zwangsgeschwängert, da es sonst keine Milchproduktion gibt. Und auch hier wird häufig den Kühen das Kalb nach der Geburt weggenommen. Ja, und auch in Bio-Betrieben werden die Kühe zum Schlachthaus gebracht, wenn sie die geforderten Leistungen nicht mehr erbringen können. Und auch in Bio-Betrieben gibt es Anbindungshaltung.
Milchproduktion ist eine Qualzucht, die mit viel Schmerz, Leid und Krankheit für die Tiere verbunden ist. Der landläufige Begriff „Dumme Kuh“ trifft ganz und gar nicht auf diese intelligenten, sanftmütigen Wesen zu. Viel stimmiger ist in meinen Augen der Ausdruck „Arme Kuh“.
Meine nächste Recherche wird sich dann vermutlich sehr schnell auf alternative Produkte zum Milchkonsum beziehen. Und ich fange schon mal an zu notieren: Sojamich, Mandelmilch, Haselnussmilch, Hafermilch, Reismilch, Kokosnussmilch, Dinkelmilch, ….