VON JASCHA SCHULZ | 29.10.2015 18:44

Kinderarbeit – Wenn das Kind-Sein am Alltag scheitert

In den letzten Jahren ist die Anzahl arbeitender Kinder deutlich zurückgegangen. Allerdings werden in den Armutsregionen dieser Erde weiterhin unzählige Kinder ausgebeutet. Und auch wenn es zynisch klingt: Viele Kinder bestehen darauf, arbeiten zu können. Sie wissen, dass ohne ihren Verdienst ihre Familie wahrscheinlich verhungern würde. Viele Hilfsorganisationen suchen deswegen nach Wegen, die Armut der Familien zu beenden und den Kindern eine angemessene Ausbildung zu ermöglichen.

Kinderarbeit wird in nahezu allen Teilen der Welt als großes Unrecht angesehen. Allerdings ist bei den verschiedenen Formen von Kinderarbeit Differenzierung notwendig. Es gibt Unterschiede zwischen legaler Beschäftigung von Jugendlichen und der Ausbeutung von Kindern. Zwischen 13 und 15 Jahren dürfen Jugendliche in den meisten Ländern leichte Arbeit verrichten. Wie viele Stunden genau gearbeitet werden dürfen ist national geregelt. Nach Artikel 32 der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen besitzt allerdings jedes Kind das Recht, vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt und nicht zu einer Arbeit herangezogen zu werden, die Gefahren mit sich bringt. Ebenso haben Kinder das Recht, keine Arbeit zu verrichten, die ihre Erziehung behindert und ihre Gesundheit sowie körperliche, geistige, seelische und soziale Entwicklung schädigen kann. Ausbeuterische Kinderarbeit verletzt dieses Recht. Als ausbeuterische Kinderarbeit gelten alle Formen der Zwangsarbeit, Kinderprostitution und –pornographie, der Einsatz von Kindern als Soldaten, illegale Tätigkeiten wie zum Beispiel Drogenschmuggel und außerdem sämtliche Arbeiten, die die Gesundheit, Sicherheit oder Sittlichkeit gefährden, wie zum Beispiel Arbeit in Steinbrüchen, auf Plantagen oder in Textilfabriken. Bei diesen werden Kinder zumeist vollbeschäftigt, schlecht bezahlt und verrichten eine monotone Arbeit in einem gefährlichen Arbeitsumfeld. Sie tragen außerdem häufig eine unverhältnismäßig große Verantwortung und erleiden zusätzlich zu den körperlichen auch schwerwiegende seelische Schäden. Diese Art der Kinderarbeit wird international einhellig verurteilt. 175 von 185 Mitgliedsstaaten der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) haben sich bereit erklärt, die schlimmen Formen der Kinderarbeit zu bekämpfen. Immerhin 163 Staaten haben sich dazu verpflichtet, das arbeitsrechtliche Mindestalter auf 15 Jahre anzuheben. Bis 2016 will die ILO ihre Ziele erreicht haben.

Allerdings ist die Realität hiervon noch weit entfernt. Auch wenn die Zahl der Kinderarbeiter seit 2000 (246 Millionen) stark zurückgegangen ist, gibt es nach Schätzungen der ILO noch ca. 168 Millionen Kinderarbeiter. 120 Millionen von ihnen sind jünger als 15 Jahre alt, 85 Millionen leiden unter gefährlichen oder ausbeuterischen Arbeitsbedingungen. Vor allem in Asien (78 Millionen) und in Afrika (59 Millionen) werden Kinder zur Arbeit herangezogen. Die meisten Kinder arbeiten in der Landwirtschaft (98 Millionen) und als Hilfskräfte im Dienstleistungsbereich (54 Millionen). Ohne rechtlichen oder gesellschaftlichen Schutz arbeiten geschätzte 15 Millionen Kinder in privaten Haushalten. Vor allem Mädchen sind hierbei kaum vor gewalttätigen oder sexuellen Übergriffen ihrer Arbeitgeber geschützt.

"Ein hungerndes Kind zu ernähren kostet 40 Cent und einen Knopfdruck"

Der häufigste Grund für Kinderarbeit ist die materielle Armut der Familien. Die zusätzlichen Einkommen der Kinder - und sind sie noch so niedrig - sichern vielen Familien das Überleben. Allerdings hat dies oft gravierende Folgen für die Folgegenerationen. Arbeitende Kinder haben zumeist nicht die Möglichkeit parallel zur Arbeit eine Ausbildung zu absolvieren und können deshalb auch als Erwachsene der Armut nicht entfliehen. Aus diesem Grund schicken sie ihre eigenen Kinder ebenfalls arbeiten. Es entsteht ein Teufelskreis, dem schwierig zu entrinnen ist. Viele Kinder werden außerdem in sklavenähnliche Verhältnisse bereits hineingeboren, und haben somit von Beginn an keine Chance auf ein kindgerechtes Leben. Naturkatastrophen oder zivile Krisen, die soziales Elend verursachen, können ebenfalls zu verstärkter Kinderarbeit führen. Ein Beispiel bildet das jordanische Za’atari Camp für syrische Flüchtlinge, in dem unhaltbare humanitäre Zustände herrschen. Man geht davon aus, dass Kinderarbeit hier eher die Regel als die Ausnahme darstellt.

Was kann aber getan werden, um ausbeutende Kinderarbeit zu stoppen? Weder die ILO noch die UN besitzen Instrumente, um Staaten oder Unternehmen, die internationale Vereinbarungen nicht einhalten, zu sanktionieren. Ein großes Problem ist zudem, dass die nationalen Rechtsprechungen häufig nicht umgesetzt werden. In Indien, das Kinderarbeit gesetzlich eindeutig verbietet, arbeiten weltweit die meisten Kinder, hier vor allem in Steinbrüchen.

Auch einfache Verbote sind nicht geeignet, um Kinderarbeit entgegenzuwirken. Diese verursachen häufig ein noch größeres Leid. 1992 verbot der amerikanische Senat den Import von Produkten, die aus Kinderarbeit erzeugt wurden. Industrieverantwortliche in Bangladesch entließen hierauf 50.000 arbeitende Kinder, die zu einem Großteil in der Prostitution oder im Steinbruch landeten. In vielen Ländern ist das Verbot von Kinderarbeit mit der realen Lebenssituation vieler Familien schlichtweg nicht vereinbar. Häufig wird das Kind nach einem Verbot aus Existenzgründen weiterhin zur Arbeit geschickt, diese ist nun allerdings illegal und läuft deshalb unter weitaus schlechteren Bedingungen ab.

Wo Kinderarbeit verboten wird, müssen deshalb zunächst Alternativen geschaffen werden. So zahlt zum Beispiel die brasilianische Regierung Eltern Geld, die ihre Kinder in die Schule schicken. Auch Nichtregierungsorganisationen verfolgen zahlreiche Maßnahmen, um ausbeuterische Kinderarbeit zu beenden. Deren Hauptziel ist in den meisten Fällen, eine angemessene Ausbildung der Kinder zu gewährleisten. „Die wirksamste Waffe gegen Ausbeutung von Kindern ist Bildung. Wer etwas gegen Kinderarbeit tun will, sollte Bildungsprojekte unterstützen.“, so die Einschätzung der Kinderarbeitsexpertin Pins Brown von der von der britischen Organisation Anti-Slavery International.

UNICEF, Terre des Hommes und weitere gemeinnützige Organisationen haben deshalb in zahlreichen ärmeren Ländern den kostenfreien Zugang zu Schulen ermöglicht. Auch eine höhere Qualität der schulischen Angebote wird durch die Errichtung von Schulmanagementsystemen sowie über Aufklärung in den Armutsvierteln erreicht. Eine entscheidende Aufgabe ist auch die Wiederintegration von arbeitenden Kindern in den Ausbildungsbetrieb. In Burkina Faso etwa haben Nichtregierungsorganisationen in Zusammenarbeit mit der Regierung Bildungskurse für 15.000 in Minen arbeitende Kinder eingerichtet.

Es werden noch weitere Strategien angewandt, um zu verhindern, dass Kinder armer Familien arbeiten müssen. SOS Kinderdorf etwa bietet Müttern in Sozialzentren die Möglichkeit, Handarbeits- und Schneiderkurse zu belegen. Auf diese Weise können die Mütter danach die Familie mitfinanzieren, während die Kinder sich auf ihre Schulausbildung konzentrieren können.

Um Kinderarbeit entgegenzuwirken ist es zudem wichtig, öffentlichen Druck auf Unternehmen auszuüben, die Kinder in ausbeutender Beschäftigung halten. Hierzu sind nicht nur NGOs sondern auch Regierungen, die Massenmedien und auch der Verbraucher gefragt. Dieser sollte beim Kauf von Produkten auf die Herstellungsbedingungen des betreffenden Unternehmens achten. Allerdings ist es aufgrund der zahlreichen Lieferanten und externen Dienstleistern schwierig zu erkennen, welche Produkte einmal einen Herstellungsprozess durchlaufen haben, der Kinderarbeit beinhaltet. Zumindest aber Produkte, die mit international anerkannten Siegeln wie TransFair, Gepa, Care&Fair, Flower Label, Hand in Hand oder Rugmark gekennzeichnet sind, entstammen höchstwahrscheinlich aus einer Produktion, die auf ausbeutende Kinderarbeit verzichtet.

Seit einiger Zeit bilden sich auch vermehrt sogenannte Kinderarbeitsorganisationen. Diese stellen Gewerkschaften dar, die aus arbeitenden Kindern bestehen. Sie fordern, dass ihnen ihre Arbeit gelassen wird. Jedoch fordern sie auch eine höhere Wertschätzung ihrer Arbeit seitens der Unternehmen. „Achten statt Ächten“ ist zum Beispiel das Motto der Kinderarbeitsgewerkschaft NATRAS in Nicaragua. In Bolivien wurde im Sommer 2014 ein Gesetz verabschiedet, das in Ausnahmefällen bereits zehnjährigen die Arbeitserlaubnis erteilt. Es wurde von der bolivianischen Kinderarbeitsorganisation angeregt. Die Kinder haben schlichtweg Angst, dass sie ohne Arbeit nicht überleben können, oder in die Kriminalität abdriften. Im indischen Kundapur formulierten Kinderarbeiter aus 33 Ländern bei einem Treffen 1996 ihr Anliegen folgendermaßen: „Wir sind gegen die Ausbeutung unserer Arbeit, wir wollen in Würde arbeiten und Zeit zum Lernen, Spielen und Ausruhen haben.“ Mit anderen Worten: Arbeit: ja. Aber das Kind-Sein aufgeben: Nein.

Kinderarbeit ist mit Sicherheit niemals wünschenswert. Wenn das Recht, sich kindgerecht entwickeln zu können, dabei allerdings eingehalten wird, dann ist das ein erster, aber wichtiger Schritt.