VON CLEMENS POKORNY | 23.10.2015 14:32

Misshandlungen: Wenn ein Kind im Elternhaus nicht sicher ist

Kindesmissbrauch kommt viel häufiger vor als man glauben mag. Das liegt einerseits daran, dass unter diesen Begriff nicht nur sexuelle, sondern auch körperliche und seelische Gewalt an Kindern gerechnet wird. Andererseits werden viele Fälle nie öffentlich. Gleichwohl haben viele Misshandlungen auch langfristige Folgen – nicht nur für die unmittelbar Betroffenen.

Laut der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen hat jedes Kind das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung im Sinne der Gleichberechtigung und des Friedens. Das erscheint im Deutschland des 21. Jahrhunderts selbstverständlich. Doch gerade diejenigen, denen qua Gesetz die Sorge um das Kindeswohl obliegt, verletzen in erheblicher Zahl das Prinzip der Gewaltfreiheit.

Denn mindestens drei von vier Kindern haben bereits leichte Schläge wie z.B. eine Ohrfeige bekommen, 20-30% wurden mindestens einmal schwerer misshandelt. Genaue Zahlen gibt es kaum. Das liegt unter anderem daran, dass weder in der Wissenschaft noch in der Gesellschaft ein Konsens darüber besteht, was alles unter den Begriff Kindesmisshandlung fällt. Außerdem ist das Dunkelfeld hier recht groß, weil über schwere oder wiederholte Fälle hinaus für Ärzte und Angehörige pädagogischer Berufe keine Meldepflicht besteht.

Grundsätzlich werden meist drei Arten von Kindesmissbrauch unterschieden: körperlicher, sexueller und emotionaler. Zu letzterem gehört die vermutlich häufigste Form der Gewalt an Schutzbefohlenen, nämlich Vernachlässigung. Von sexuellem Missbrauch abgesehen, der zu über 95% von Männern verübt wird, halten sich die Geschlechter unter den Tätern annähernd die Waage. Doch die verfügbaren Zahlen bilden nur ab, was den zuständigen Behörden in Deutschland bekannt wird. Insbesondere emotionale Misshandlungen werden nur in schweren und wiederholten Fällen aktenkundig. Immerhin umfasst der Begriff ein weites Feld von Gewalt an Kindern und Jugendlichen: Erniedrigung, Drohungen und Liebesentzug werden ebenso dazu gezählt wie Verwöhnen, körperliche bzw. seelische Vernachlässigung oder Missbrauch als Partnerersatz.

Vergebung: Wege aus der Spirale aus Hass und Rache

Kinder und Jugendliche leiden nicht nur selbst unter der Gewalt, die ihnen angetan wird und die zu Entwicklungsverzögerungen, Traumatisierungen und Persönlichkeitsveränderungen führen kann. Da sie durch unbewusste Nachahmung des Verhaltens ihrer Eltern lernen, wenden sie erfahrene Gewalt auch gegen andere und versuchen, Konflikte auf diese Art zu bewältigen und ihr durch die ihnen angetanen Misshandlungen gestörtes Selbstbewusstsein aufzuwerten. Daraus können weitere Konflikte und äußerstenfalls soziale Isolation resultieren. In jedem Fall aber leiden die Spiel- und Klassenkameraden der Betroffenen darunter. Und wenn missbrauchte Menschen einmal selbst Kinder haben, benutzen sie die im Elternhaus erlernte Gewalt als Erziehungsmittel und um Aggressionen abzubauen. So werden Misshandlungen von einer Generation zur nächsten weitergegeben und wirken über die Familie hinaus – ein sich potentiell sogar weiter ausbreitender Teufelskreis.

Wenn man sich diese Zusammenhänge vor Augen führt, wird klar, dass die Täter meist auch Opfer waren. Mit moralischen Verurteilungen sollte man also vorsichtig sein, was strafrechtlicher Verfolgung schwerer Fälle freilich nicht widerspricht. Staatliche Stellen versuchen, mit Sensibilisierungskampagnen auf das Thema Kindesmissbrauch aufmerksam zu machen, und setzen dabei sowohl bei (möglichen) Tätern als auch bei (möglichen) Opfern an. Auch Elternkurse, Telefonhotlines, Beratungsstellen oder Mädchenhäuser gehören zu den Präventionsmaßnahmen, die zugleich zur Aufdeckung von Misshandlungsfällen beitragen können. Vor allem aber ist der gesunde Menschenverstand der Erziehungsberechtigten gefordert, man denke etwa an die Goldene Regel: Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst. Welcher psychisch gesunde Mensch will wiederholt im Alltag gedemütigt, vernachlässigt, geschlagen oder gar sexuell missbraucht werden? Ein Klaps hat noch niemandem geschadet, sagt der Volksmund – aber hat solche Einschüchterung Kindern jemals genutzt?