VON JANA NOSSIN | 28.10.2015 16:10

Straßenkinder in Deutschland: von Staat und Gesellschaft alleine gelassen?

In Deutschland leben derzeit bis zu 20.000 Kinder und Jugendliche ganz oder teilweise auf der Straße. Exakte Zahlen über „Kinder, Jugendliche und junge Volljährige mit „Straßenkarrieren“, wie die Bundesregierung die Betroffenen im zweiten Armutsbericht aus dem Jahr 2005 nennt, aus denen eindeutig hervor geht, wie viele junge Menschen in Deutschland tatsächlich auf der Straße leben, gibt es nicht.


Insbesondere „wegen der fließenden Übergängen zwischen der normalen Existenzweise und einer Straßenkarriere, sowie wegen des häufigen Ortswechsels der Betroffenen“, so die Begründung im Armutsbericht, können keine exakten Zahlen vorgelegt werden.

Und tatsächlich pendeln viele der Betroffenen - die meisten von ihnen im jugendlichen- oder jungen Erwachsenenalter - für unbestimmte Zeit zwischen ihren Familien, Jugendhilfe und der Straße. Insbesondere Großstädte sind ein beliebter Anziehungspunkt für jugendliche Ausreißer. Freundschaften und Zusammenschlüsse sind für „Straßenkinder“ sehr wichtig, denn das Leben auf der Straße ist nicht einfach. Wohn- und Unterkunftsmöglichkeiten sind prekär und das benötigte Geld zum Überleben ist nur schwer verdient. Neben üblichen Gelegenheitsjobs wie Schuhe putzen, Autos bewachen und Zigarettenverkauf sind illegale Tätigkeiten wie Drogenhandel, Prostitution und Diebstahl meist lukrativer. So gestaltet sich der Übergang von legalen zu illegalen Tätigkeiten oft fließend. Nicht nur gesundheitlich werden die Jugendlichen auf der Straße ständigen Gefahren ausgesetzt. Denn schnell entpuppt sich die Freiheit auf der Straße als eine Illusion, die von Konkurrenz, Hierarchie und Ausbeutung getragen wird.

Das Bedingungslose Grundeinkommen

Das Deutsche Kinder- und Jugendhilfegesetzt (SGB VIII) gilt als eines der weitreichendsten Jugendgesetzte der Welt und besagt, dass jeder junger Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschafsfähigen Persönlichkeit hat. Mit Durchführung des Gesetzes ist zu gewährleisten, dass positive Lebendbedingungen für junge Menschen und ihre Familien geschaffen oder erhalten werden. Entsprechend sind die Jugendämter in Deutschland nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, Kinder oder Jugendliche in Obhut zu nehmen, wenn diese um Obhut bitten.

Warum leben dann trotzdem so viele junge Menschen auf der Straße?

Die Gründe, warum junge Menschen ein Leben auf der Straße führen, sind vielfältig und weitreichend. Armut als direkter Auslöser spielte hierbei bisher noch immer eine indirekte Rolle. Viele der Betroffenen kommen aus zerrütteten Familienverhältnissen, flüchten vor Vernachlässigung und Verwahrlosung und nicht selten vor Gewalt und Missbrauch. Diese Zustände, die in allen Gesellschaftsschichten vorkommen können, werden jedoch häufig durch ein schwieriges Umfeld, wie prekäre Arbeits- und Wohnverhältnisse gebahnt.

Sucht ein Jugendlicher Hilfe oder Obdach, ist grundsätzlich das Jugendamt zuständig, welches sich in dessen jeweiligem Aufenthaltsbereich befindet. Doch bereits bei der Zuständigkeit des Jugendamtes, die durch das Kinder- und Jugendhilfe Gesetz (KJHG) im SGB VIII faktisch zweifelsohne geklärt ist, beginnt die Problematik. Oft werden die Zuständigkeiten von den Jugendämtern eigenmächtig untereinander hin und her geschoben und die Jugendlichen - insbesondere schwierige Fälle - in der Praxis von Einrichtung zu Einrichtung verwiesen.

In Deutschland gibt es ca. 33.000 verschiedene Jugendeinrichtungen, von denen ca. zwei Drittel private Einrichtungen sind. Diese werden vom Staat bezahlt, kosten viel Geld, sind jedoch oft wirtschaftlich orientiert.

Dem Gesetz nach muss jedes Jugendamt reagieren, wenn Kinder oder Jugendliche nach Hilfe oder Obdach bitten. Das von den Betroffenen kontaktierte Jugendamt muss die Betroffenen zunächst in Obhut nehmen und eine Unterkunft, z. B. in einer Jugendhilfeeinrichtung anbieten. Mit den Jugendlichen und den Eltern sind Gespräche zu führen. Es muss eine Hilfekonferenz abgehalten werden, um den Betroffenen eine langfristige Unterbringung oder die Rückkehr in die Familie zu gewährleisten.

Und auch wenn die Jugendämter sich der Betroffenen direkt annehmen, so müssen meist erst verschiedene Kostenträger, mögliche Wohngruppen und diverse Optionen abgefragt werden, dessen Rücklauf dann letztendlich oft viel zu lange dauert, als dass die Jugendlichen schnell aufgefangen werden können. Doch genau das wäre aber ein notwendiger und wichtiger Schritt, denn für die Betroffenen ist unbürokratische und schnelle Hilfe in den allermeisten Fällen unbedingt notwendig. Darüber hinaus ist die von Gesetzes wegen garantierte Hilfe an Bedingungen geknüpft, welche die Betroffenen oft nicht direkt umsetzen können, weil sie selbst viel zu tief in Problemen stecken. Die größten Hindernisse, den Jugendlichen schnell und nachhaltig helfen zu können, so dass diese gar nicht erst auf der Straße landen, sind fehlendes Personal und fehlende Wohnungen, vor allem aber fehlende individuelle Lösungen sowie die Nicht-Einbeziehung der Jugendlichen selbst in die Lösungsfindung.

Ein sehr gut funktionierendes Konzept nennt sich „housing first“ und wird seit 2009 in Dänemark praktiziert. Hierfür stellte die dänische Regierung rund 65 Millionen Euro bereit. Was zunächst nach einer sehr teuren Investition aussieht, hat sich für die Betroffenen, als auch für den Staat, sehr schnell als zweckvoll erwiesen und langfristig bezahlt gemacht. Denn mit Umsetzung des Konzeptes werden die Jugendlichen schnell aufgefangen und schnell wieder in die Gesellschaft integriert. Folglich verdienen sie viel schneller als in anderen Obdachlosenstrategien ihr eigenes Geld und benötigen somit keine langfristige Unterstützung seitens des Staates.

Konkret setzt „housing first“ schnelle Entscheidungen sowie eine schnelle Vermittlung - ohne zwingende Einhaltung von gekoppelten Bedingungen - in ein betreutes Wohnen um. Somit können die Betroffenen zuerst einmal versorgt und stabilisiert werden, um dann in weiteren Schritten zurück ins Leben finden.

Und auch in Deutschland würde sich dieses Konzept sicherlich schnell bezahlt machen. Die Jugendhilfestatistik zeigt, dass die Hilfemaßnahmen in Deutschland seit Jahren zwar steigen, allerdings führen die langen Warte- und Abwicklungszeiten der Jugendämter und das Fehlen von individuellen Lösungen leicht dazu, dass die Jugendlichen eine Abwehrhaltung gegen das ganze System entwickeln und letztendlich ein Leben auf der Straße vorziehen.

Dabei wünschen sich die meisten der auf der Straße lebenden Jugendlichen, so wie andere junge Menschen auch, ein geregeltes Leben, einen Schulabschluss oder eine Berufsausbildung, um eine Arbeit zu finden und später vielleicht einmal selbst eine Familie gründen zu können.